Als Metropole der Einwanderer wurde New York einst zum sicheren Hafen für Europäer. Heute strömen Menschen aus Südamerika und Afrika in die Stadt – und überfordern sie
Focus 39/24
Deyvid (Nachname bleibt anonym) ist angespannt an diesem trüben Septembermorgen in Manhattan, er schaut unter sich und spricht mit gedämpfter, ängstlicher Stimme, als er am Einwanderungsgericht von New York eintrifft. Der junge Mann mit den tiefbraunen Augen hat sich ein gebügeltes Hemd und frische Jeans angezogen, der Nacken ist sauber ausrasiert. An seinem Rucksack stecken zwei Buttons – ein vierblättriges Kleeblatt und eines mit dem Schriftzug „Hope“.
Das Gericht an der Brooklyn Bridge ist ein nüchterner Zweckbau aus Glas und Stahl und vor dem Eingang an der Worth Street wartet eine Hundert Meter lange Schlange darauf, dass die Beamten einer angeheuerten Sicherheitsfirma die Tore öffnen. Es sind Asylbewerber wie Deyvid, die hier heute vor den Richter treten, rund 700 Menschen aus der ganzen Welt, genau jene „Mittellosen, Heimatlosen, hoffnungslos Zerlumpten, vom Sturm Gebeutelten, Abgestumpften und Müden, die trotzdem nach Freiheit dürsten“, die Emma Lazarus in ihrem berühmten Gedicht besungen hat, das keine zwei Kilometer entfernt in den Sockel der Freiheitsstatue gemeißelt ist.
Für manche, wie Deyvid, ist es nur ein erster Termin, eine Formalität, für manche wird heute über ihre Abschiebung entschieden. Fünf bis sechs Minuten bekommt jeder in einem der nur 30 Gerichtssäle im 14. Stock des Gebäudes. Ein Zustand, der nun schon seit beinahe zwei Jahren anhält, seit republikanisch regierte Staaten an der mexikanischen Grenze wie Texas einfach anfingen, die Massen an Flüchtlingen, die über den Rio Grande kamen, in Busse zu setzen und in sogenannte „sanctuary cities“ – Zufluchtsstädte – im liberalen Norden zu schicken. Rund 220,000 Flüchtlinge musste seither alleine New York absorbieren und die Stadt ächzt unter dem Andrang.
https://www.nytimes.com/article/nyc-migrant-crisis-explained.html
Genau das ist es freilich, was konservativ regierte Staaten mit ihrer offen feindseligen Praxis erreichen wollen, die Flüchtlinge einfach in demokratisch geführte Städte zu verschiffen. Trump und seine Genossen, wie etwa der texanische Gouverneur Abbott oder der floridianische Gouverneur De Santis hoffen damit jene Zustände zu schaffen, die ihrer Rhetorik nach die angebliche Politik offener Grenzen der Biden/Harris Regierung verursacht hat: Vom dramatischen Anstieg der Kriminalität bis hin zu jenen Haustier-fressenden Immigranten, die sich Trump in der Debatte mit Harris zusammen fantasiert hat. Es ist eine zynische Wahlkampfpolitik auf dem Rücken der Allerschwächsten.
Doch die New Yorker lassen sich davon nicht beirren und versuchen, so gut es geht, mit Mitgefühl und Pragmatismus den Sturm zu bewältigen. So wartet auf Deyvid vor dem Gericht Joan Sanchez, eine Beleuchtungstechnikerin am Theater in ihren frühen 60er Jahren. Joan, deren lange Haare grellrosa gefärbt sind, ist freiwillige Helferin der Organisaton „New Sanctuary Coalition“, die Asylbewerbern beim ihrem Asylverfahren zur Seite steht, nicht zuletzt, weil es nicht genügend Anwälte gibt, um alle Bewerber zu vertreten. Geduldig erklärt sie, halb auf Spanisch, halb auf Englisch, was Deyvid in den kommenden Stunden erwartet. Welche Formulare er ausfüllen muss. Was er dem Richter sagen soll. Und als er wissen will, ob er gleich deportiert werden kann, beruhigt sie ihn mehrfach.
In diesem Stadium seines Verfahrens ist Deyvid noch geschützt. Als er, von Peru kommend, vor drei Monaten bei El Paso über die mexikanische Grenze wanderte, bekam er ordnungsgemäß seine Fall-Nummer von der Einwanderungsbehörde CBP. Damit lief sein Asylverfahren an und er ist vor Deportationen geschützt, so lange dieses noch in der Schwebe ist. Bis zu zwei Jahre kann das dauern, manchmal noch länger. Die Anzahl der Fälle, die sich am New Yorker Gericht angestaut haben, liegt bei mehr als 300000, national sind es über drei Millionen. Nach seinem ersten Termin heute tickt die Uhr, bis er einen Antrag auf Arbeitsgenehmigung stellen darf. 150 Tage muss er darauf noch warten, noch einnmal fünf Monate, zusätzlich zu den dreien, die er eh schon wartet.
https://www.nytimes.com/2024/05/19/us/migrants-lawyer-shortages.html
Deyvid ist aus Peru geflohen, weil er die Gewalt gegen Homosexuelle dort nicht mehr ertrug. Dreimal wurde er in Lima schwer attackiert, zwei Mal landete er im Krankenhaus. Die Polizei unternahm nichts, seine Familie stand nicht zu ihm. Und so machte er sich auf den langen Trek über Kolumbien nach Mexiko. Als er in einem Auffanglager in El Paso ankam, hatte er nichts mehr, als seinen Pass und ein Telefon. Sein Bargeld war an einen Schlepper gegangen, der ihn über die grüne Grenze brachte. Auf der texanischen Seite fanden ihn Grenztruppen in einen Stacheldraht verheddert auf, aus dem er sich stundenlang nicht hatte befreien können.
Dennoch - heute geht es Deyvid im Vergleich zu vielen Asylbewerbern in New York gut. Er spricht ein brauchbares Englisch, er hat einen Schulabschluss und eine Ausbildung als Koch. Und er hatte mehrere Kontakte hier, als er ankam. Deyvid findet sich zurecht. Er hat einen schwarzen Job als Küchengehilfe in einem Restaurant gefunden und bald, so hofft er, kann er aus der Flüchtlingsunterkunft in Harlem ausziehen, in der er haust, und zusammen mit einem Bekannten in eine eigene Wohnung ziehen. Er ist dabei, Fuß zu fassen.
Anderen geht es da weniger gut. Wenn man die Fußgängerbrücke über den East River nach Randall’s Island, eigentlich eine Sport- und Freizeitinsel in Spuckweite von Manhattan, läuft, bietet sich ein Bild des Elends. In der Mitte der Insel erhebt sich auf dem Gelände mehrerer Fußballfelder eine ganze Siedlung Oktoberfest-großer Wohnzelte. Vor den Zäunen, welche die Zeltstadt umringen, lungern zumeist junge Männer herum. „Dort drin ist es schrecklich“, sagt ein Senegalese, der sich mit Freunden auf einer Böschung am Fluss in die Sonne gesetzt hat und sehnsuchtsvoll auf die Skyline von New York blickt.
Die hygienischen Verhältnisse in den Notunterkünften für bis zu 5000 Asylsuchende, die in langen Reihen von Feldbetten schlafen, so hört man immer wieder, seien katastrophal. Hinzu komme die ständige Gefahr der Gewalt. Nach der Wahl in Venezuela im Juli etwa brach unter venezuelanischen Flüchtlingen eine Schießerei aus, bei denen ein Asylbewerber starb. Kurz darauf kam ein Mann bei einer Messerstecherei ums Leben. „Das sind nicht wir“, sagt der Senegalese gleich, ohne gefragt zu werden. „Das sind die Latinos mit den Drogen und den Waffen.“
Hundert Meter entfernt hat ein junger Mann aus Venezuela unter einem Baum mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern ein notdürftiges Zelt aus Planen und Plastiksäcken gebaut. Auf einem offenen Feuer werden Kochbananen geröstet. Auch sie bleiben, so lange es warm genug ist, lieber hier Draußen als Drinnen in den Zelten.
Auf die Frage, wie er her gekommen ist, zählt der Mann, der einen schmutzigen Trainingsanzug trägt, alle Länder zwischen Venezuela und den USA auf: Kolumbien, Panama, Costa Rica, Nicaragua, Guatemala, Mexiko. Dazu stellt er das Tragen eines Rucksacks dar und stampft marschierend auf und ab. Als wir ihn fragen, wie lange es nun her ist, seit er Venezuela verlassen hat, hebt er den Zeigefinger und den Mittelfinger. Zwei Jahre ist seine Familie nun wohnsitzlos, arbeitslos, staatenlos.
Bei den Bürgern der Stadt New York wächst derweil trotz der weit verbreiteten liberalen Gesinnung der Unmut über diese Flut von Asylbewerbern. Der Verein, der Randall’s Island als Sport- und Freizeitpark betreibt, hatte etwa im Frühjahr gedroht, die Stadt zu verklagen, wenn bis zum Sommer die Zeltstadt nicht verschwunden ist. Die Drohung wurde nicht wahr gemacht, doch der Zorn darüber, dass Fußballturniere ausfallen und Picknickflächen nicht zur Verfügung stehen, wurde deutlich.
An anderer Stelle ist die Lage noch angespannter. Zwischen der Stadtautobahn, die Brooklyn durchschneidet und dem alten Industriehafen im East River hat die Stadt ein altes Lagerhaus einem Entwickler abgekauft, dem das Geld für sein Sanierungsprojekt ausgegangen ist. Dort hausen nun 4000 Asylsuchende. Viele belagern tagsüber die Straßen vor dem Gebäude und die Spielplätze, wo sie sich mit Eimern waschen und ihre Wäsche an den Zäunen zum Trocknen aufhängen.
Die Anwohner sind hin- und her gerissen zwischen Mitgefühl und der Angst darum, was aus ihrer Nachbarschaft wird. Bei einer Anhörung mit Bürgermeister Eric Adams plädierten sie dafür, die Anzahl der Untergebrachten deutlich zu reduzieren. Doch Adams musste passen: „Ich wüsste nicht, wo ich mit den Menschen hin soll.“
Adams ist in einer schwierigen Lage. Das Gesetz der Stadt New York garantiert ein Recht auf Obdach, doch Adams hat schon in normalen Zeiten Probleme, diesen Rechtsanspruch zu erfüllen. Schon bevor die Busse aus Texas kamen, hatte die Stadt 80,000 Wohnsitzlose unter zu bringen. Nun sind alleine 60,000 Asylsuchende im Netzwerk städtischer Notunterkünfte untergebracht. Gegenwärtig bringt die Stadt mehr als 130,000 Menschen unter
https://www.coalitionforthehomeless.org/basic-facts-about-homelessness-new-york-city/
Die Stadt sucht deshalb an jeder Ecke nach Raum. Im Touristenbezirk Midtown, rund um den Times Square, sind Dutzende von Hotels von der Stadt belegt worden, um Asylsuchende zu beherbergen. In den Lobbys stehen Sicherheitsbeamte, auf den Bürgersteigen lungern junge Männer und Familien aus Westafrika und Südamerika herum, um die Zeit tot zu schlagen, bis sie eine Arbeitsgenehmigung erhalten.
Um der Lage her zu werden hat Adams bereits versucht, das Recht auf Obdach temporär gerichtlich aufheben zu lassen. Er erzielte immerhin einen Vergleich. Neu ankommende Asylbewerber haben nun nur noch 30 Tage lang Recht auf eine städtische Unterkunft. Viel zu wenig, wie Gruppen wie die von Joan Sanchez beanstanden, um irgendeine Form der Arbeit und eine eigene Bleibe zu finden, wenn man mittellos aus einem fremden Land kommt. Deshalb wird die Frist bislang auch nicht hart durchgesetzt.
Trotzdem wächst die Anzahl der Menschen, die auf der Straße landen, in der Stadt merklich. Die U-Bahnen sind voll von Wohnsitzlosen, im zentralen Geschäftsbezirk Midtown gehören sie wieder zum alltäglichen Stadtbild. New York fühlt sich an die schlimmen Zeiten der 80er und 90er Jahre erinnert, als die Stadt pleite und die Verelendung allgegenwärtig war.
Und auch finanziell kämpft die Stadt mit dem Problem. Fünf Milliarden Dollar hat New York bislang für die Beherbergung der Asylsuchenden ausgegeben, über das kommende Jahr, so schätzt der Bürgermeister wird diese Zahl die 10 Milliarden überschreiten. Und das in einer Zeit, in welcher die Steuereinnahmen sinken. Grund für Eric Adams, seiner Frustration mit Washington zum Ausdruck zu bringen. „Einwanderung ist eigentlich die Zuständigkeit des Bundes“, sagt er. Doch er fühlt sich damit alleine gelassen. Anstatt den Städten mehr Geld zur Verfügung zu stellen, strich der Kongress im vergangenen Sommer das Budget für Notunterkünfte zusammen.
https://www.nytimes.com/article/nyc-migrant-crisis-explained.html
https://www.cnn.com/2024/04/11/politics/cities-migrants-federal-funding-cut/index.html
Immerhin hat die Exekutivanordnung von Joe Biden im Juni, die mexikanische Grenze wegen der Flut an Migranten zu schließen, temporär Linderung gebracht. Die Anzahl der Asylbewerber in städtischen Unterkünften ist von beinahe 70,000 auf knapp 60,000 zurück gegangen. Doch im Grunde weiß jeder, dass das Problem damit nicht gelöst ist. Zuletzt scheiterte im Kongress ein Gesetzeskompromiss, den Demokraten und Republikaner in harten, monatelangen Verhandlungen ausgearbeitet hatten, daran, dass die Republikaner ihn im letzten Augenblick doch noch blockierten. Es war der letzte einer langen Liste von gescheiterten Versuchen, die Einwanderung in die USA zu reformieren, einer Liste, die bis in die 80er Jahre zurück reicht.
So sind die Stadt und die Asylbewerber weiterhin auf die Hilfe privater Initiativen angewiesen. Wie die von Joan Sanchez. Oder die des Franziskanermönches Julian Jagudilla, der eine Beratungs- und Aufnahmestelle in seinem Kloster an der 31ten Straße, mitten in Manhattan, eingerichtet hat. An jedem beliebigen Werktag sitzen hier im Kircheneingang unter bunten Fenstermalereien einige Dutzend Menschen, vornehmlich aus Ländern wie Mauretanien, dem Senegal oder Venezuela und warten geduldig darauf, sich mit einem freiwilligen Berater zu treffen.
„Es geht in der Hauptsache darum, ihnen Arbeitsgenehmigungen zu verschaffen“, sagt der kleine Geistliche, der in seiner braunen Kutte hektisch im Verwaltungstrakt seines Klosters um her schwirrt. Etwa 40 bis 50 Fälle kann er pro Woche bearbeiten, rund 2500 Menschen hat er geholfen, seit Mitte 2023 die große Migrationswelle aus dem Süden nach New York gerollt kam. Es ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, das weiß Bruder Jagudilla. „Aber was sollen wir tun? Sollen wir deshalb aufgeben?“
Bruder Jagudilla und Joan Sanchez kämpfen weiter, sie ringen darum, jedem Einzelnen Migranten irgendwie einen Start in ein Leben in den USA zu ebnen. Auch wenn
Ihnen dabei manchmal der Mut sinkt. So wie jüngst, als eine Familie aus Mali, die Bruder Jagudilla betreut hatte, einfach verschwand. „Sie waren zuletzt in einer Notunterkunft am Flughafen, eine Mutter mit vier Kindern. Die Regierung hat sie rausgeschmissen, weil sie schon sechs Monate dort gelebt hatte“, erzählt Jagudilla. „Wir haben keine Ahnung, was mit ihr passiert ist.“
Die Frau und ihre Kinder sind nun fünf weitere der geschätzten 560,000 undokumentierten Einwanderer, die in New York ein Schattendasein führen. Mehr als 12 Millionen sind es in den USA. Sie haben keine Rechte, sind schutzlos jeder Form der Ausbeutung und des Missbrauchs ausgeliefert und können jederzeit abgeschoben werden. Sie liefern mit Elektrofahrrädern Essen aus, sie putzen und babysitten oder verkaufen in der U-Bahn für ein paar Cents Süßigkeiten. Und leben beengt in meist illegal angemieteten Wohnungen. Es ist das traurige Ende eines amerikanischen Traums, der am anderen Ende der Welt begonnen hat. Und je schlechter das Einwanderungssystem der USA funktioniert, um so typischer wird dieses Schicksal.