Einmal im Monat treffen sich Holocaust-Überlebende im »Club 2600« in New York. Für ein paar Stunden sind sie dann nicht allein, denn mit dem Alter nehmen Einsamkeit und Depressionen zu

Jüdische Allgemeine, 5.5.2024

Die Merkaz Hasimcha ist ein unscheinbarer Backsteinbau inmitten eines unscheinbaren Viertels voller Backsteinbauten, irgendwo im endlosen Meer gesichtsloser Stadtviertel zwischen der Brooklyn Bridge und Coney Island. Midwood heißt der Bezirk hier und das einzige, das ihn von angrenzenden Bezirken wie Flatbush, Mapleton oder Homecrest unterscheidet, ist, dass in den kleinen Läden entlang der Haupteinkaufsstraße, der Avenue M, die Besitzer und Verkäufer nicht spanisch oder arabisch sprechen sondern Yiddisch, Russisch oder Hebräisch.

Die Stimmung im Viertel ist an einem gewöhnlichen Dienstagvormittag verschlafen, die Kinder sind noch in der Schule, für die Menschen in den Büros hat die Mittagspause noch nicht begonnen. Die Pizzen im Imbiss auf dem Eck werden noch geknetet, die Verkäufer der zahlreichen Hutgeschäfte stehen auf der Straße und unterhalten sich.  Alleine vor der Merkaz Hasimcha, einem Veranstaltungssaal, der gewöhnlich Hochzeiten oder Bar und Bat Mitzvah-Feiern beherbergt, herrscht reges Treiben. Im Minutentakt fahren Kleinbusse und Taxis vor und spülen festlich gekleidete ältere Herrschaften auf den Bürgersteig. Der große Saal der Merkaz Hasimcha öffnet zwar erst in einer Stunde, doch die Gäste nehmen das Warten im Flur gerne in Kauf. Den ganzen Monat freuen sie sich schon auf diesen Tag, dem Treffen des 2600 Club.

Der Name stammt von der ursprünglichen Adresse der monatlichen Zusammenkunft nicht weit von hier an der Nummer 2600 Ocean Avenue, wo vor mehr als 20 Jahren erstmals die Holocaust Überlebenden aus den Vierteln des südlichen Brooklyn zusammen kamen.  Hier, vor allem in den jüdischen Enklaven entlang des Strandes von Brighton Beach, fanden die meisten Holocaust Überlebenden, die aus Osteuropa in die USA kamen, nach dem Krieg und bis weit in die 50er Jahre hinein ihren ersten Anker in der neuen Welt.

Brighton Beach, der östliche Teil der Insel von Coney Island war bereits seit der Jahrhundertwende ein stark jüdisch geprägtes Viertel. Hier konnten jüdische Einwanderer aus Osteuropa aus der Enge und dem Elend der klassischen Einwandererviertel von Manhattan ausbrechen und sich am Meer bescheidene Einfamilienhäuser mit Licht und Luft leisten. Als ab Ende der 40er Jahre die Holocaust-Überlebenden aus den großen DP Camps begannen, in die USA zu strömen war dann die Community von Brighton Beach ihre natürliche Anlaufstelle. Hier sprach man russisch, polnisch und jiddisch, die Gemeindezentren und die Nachbarn halfen dabei eine neue Existenz aufzubauen. Bis

Sie breiteten sich später in die benachbarten Viertel entlang des Ocean Parkway, der großen Magistrale vom Zentrum von Brooklyn hinaus ans Meer, aus. Viele schafften den Sprung nach Manhattan oder ganz weg aus New York, bis nach Kalifornien. Doch bis heute beheimaten Brighton Beach und die angrenzenden Viertel eine ungewöhnliche Dichte an Überlebenden. Rund 70 Prozent der geschätzten 14,000 Überlebenden, die es noch in New York gibt, leben hier. Diejenigen, die hier in Süd-Brooklyn geblieben sind, sind jedoch nicht unbedingt die, die es zu großem Wohlstand gebracht haben.

Seit den ersten Zusammenkünften in einem kleinen Raum an der 2600 Ocean ist das Treffen, ganz der statistischen Logik widersprechend, enorm angewachsen. Als um Punkt 12 die Tür zum Festsaal aufgeht sind beinahe 20 große ovale Tische gedeckt, um die herum je ein Dutzend Menschen Platz finden. Der Andrang ist so groß, dass Zehava Birman Wallace, die Organisatorin vom Jewish Community Center of Greater Coney Island, immer wieder mahnen muss, doch bitte keine Plätze frei zu halten, damit jeder einen Stuhl bekommt.

Das Treffen, mit großzügigen Mitteln der Claims Conference, die Entschädigungsgelder der deutschen Bundesregierung verwaltet, ausgestattet, hat sich herumgesprochen. Es kommen Holocaust-Überlebende aus ganz der ganzen Stadt, um zu essen und zu tanzen und das Leben zu feiern. „Viele unserer Klienten“, sagt Birman Wallace, „haben mit Einsamkeit und Depression zu kämpfen.“ Der monatliche Termin ist für sie ein Anker im Leben, insbesondere wenn sie, wie viele in diesem Alter, verwitwet sind.

Nicht wenige der Überlebenden im Einzugsgebiet des JCC von Coney Island haben jedoch nicht nur psychologisch sondern auch wirtschaftlich zu kämpfen. Etwa 40 Prozent der Überlebenden leben an oder nahe der Armutsgrenze, deutlich mehr als die geschätzten zehn Prozent der amerikanischen Gesamtbevölkerung. Dabei wird ein direkter Zusammenhang mit den schweren Traumatisierungen vermutet. Das JCC, mit einem Budget von 118 Millionen, eines der umfangreichsten Programme zur Betreuung von Holocaust Überlebenden in New York, zählt derzeit rund 3000 „Klienten“ wie Zehava Birman Wallace die Menschen in ihrer Obhut nennt. Sie bekommen warme Mahlzeiten geliefert, Fahrdienste sowie Hilfe bei der Bearbeitung von Krankenversicherungsansprüchen. „Der Bedarf ist groß“, sagt Birman Wallace. Fast jede Woche erhalte sie 10 Bewerbungen, im vergangenen Jahr war die Warteliste vorübergehend auf 275 Namen angewachsen. „Um den gesamten Bedarf zu decken, bräuchten wir etwa 10 Millionen Dollar mehr.“ Gerade jetzt, da die Überlebenden sehr alt würden, sei die Not am Größten.

Dieser Nachmittag ist jedoch dazu da, Sorgen zu vergessen. Der Raum ist mit bunten Luftballons geschmückt, aus den Lautsprechern tönen Gassenhauer wie Frank Sinatras „My Way“ und „Hava Nagila“. Eine Gruppe Jugendlicher von der örtlichen Highschool gehen im Raum umher und verteilen Lose für ein Gewinnspiel. Livrierte Kellner huschen umher und teilen Vorspeisen aus.

Über die schmerzhafte Vergangenheit, die allen hier gemeinsam ist, mögen an diesem Tag nur wenige reden, auch wenn sie natürlich schwer im Raum hängt. Die Versuche der Gastgeber von JCC, die Stimmung anzuheizen, können nur dürftig übertünchen, dass sich hier eine Masse an kollektivem Trauma zusammen gefunden hat, wie sie wohl nur selten auf der Welt anzutreffen ist. Doch neben dieser Schwere ist auch ein überwältigender Geist von Lebenswillen und Lebensmut spürbar.

Hedwig Weiss etwa strahlt eine ansteckend positive Energie ist. Die 95-Jährige wirkt um ein vielfaches jünger. In ihrem eleganten, enganliegenden Wollkleid könnte sie auf jeder Manhattaner Cocktailparty punkten. Sie plaudert charmant und pfiffig und lacht unentwegt. Ein ganz besonders großes Grinsen fliegt ihr jedoch über das Gesicht, als sie berichten darf, dass sie mit ihrem Mann Jacob, der neben ihr sitzt, nun 75 Jahre verheiratet ist. Jacob kann wegen einer Hörschwäche der Unterhaltung nicht ganz folgen, doch er schaut seine Hedwig mit so verliebten Augen an, dass man weiß, er versteht sie.

Die Geschichte der beiden mag sie dann auch nur im Schnelldurchlauf erzählen. Jacob und Hedwig stammen aus kleinen Dörfern in Tschechien und haben sich Anfang der 40er Jahre in Budapest kennen gelernt. Dort haben sie den Krieg überlebt, ins Detail mag Hedwig nicht gehen. „Es war nicht schön“, sagt sie nur knapp und zum ersten Mal verdüstert sich kurz ihre Miene. In die USA sind sie dann Anfang der 50er Jahre über Palästina gekommen. Mittellos zwar, doch immerhin hatten sie sich. Hedwig hat sich dann zunächst mit jeder Arbeit durchgeschlagen, die sie bekommen konnte, und sich schließlich selbst ein Studium an einer Modefachschule finanziert. Gearbeitet hat sie dann als Modeschneiderin, doch das ist lange her, die beiden sind schließlich schon seit Jahrzehnten im Ruhestand.

Ein Mann immerhin möchte über die Vergangenheit reden und das ohne gefragt zu werden. Avi Felsman, in einen dunklen Anzug gekleidet und mit sauber gestutztem Bart,  kommt von sich aus auf den Reporter zu und dann bricht aus ihm ein Erzählschwall heraus, der bei ihm stets an die Oberfläche zu drängen scheint, jederzeit kurz davor, zu explodieren.

Avi berichtet davon, wie es war, als im Jahr 1939 die Nazis in sein Heimatort Lukow in Polen kamen, 45 Lastwagen voll deutscher Soldaten seien es gewesen. Er erzählt davon, wie es wahllose Erschießungen gegeben habe, nachdem ein polnischer Soldat einen deutschen Soldaten erschossen hatte. Er erzählt davon, wie sein Vater Josef, nachdem er mehrere Monate in einem Lager zugebracht hatte, zurück kam und mit der Familie nach Osten floh, immer weiter, wie sie als Bauern in Sibirien den Krieg überlebten. Schließlich berichtet er davon, wie die Felsmans nach dem Krieg nach Lukow zurück kamen und keinen Überlebenden mehr antrafen. Die gesamte Familie war in den Lagern umgekommen.

Avi steigert sich immer mehr in seine Geschichte, schaut dem Zuhörer mit bohrendem Blick in die Augen und stellt schließlich, an niemanden bestimmtes, sondern eher an das Universum, die klagende Frage – „wie konnte so etwas sein? Wie konnte ein gebildetes Volk so etwas zu lassen?“ Schließlich packt Avis Frau ihn am Ärmel und versucht ihn abzulenken, nimmt ihn mit durch den Saal, um Bekannte zu begrüßen.

So hat jeder hier im 2600 Club seinen eigenen Umgang mit der Vergangenheit und mit dem Leben. Je länger die Party geht, desto mehr macht sich jedoch Ausgelassenheit breit. Wer noch gut zu Fuß ist steht nach dem Dessert auf und schwoft ein wenig zu den Klängen einer Hammond Orgel, die ein Unterhalter bedient. Es wird die Freude spürbar, zu  leben, hier zu sein.

Nach zwei Stunden ist dann alles vorbei, die Frühlingssonne strahlt wärmend über die Avenue M. Die Gäste strömen langsam, zaudernd, auf die Straße um in ihre Fahrgelegenheiten zu steigen. Niemand möchte wirklich schon nach Hause gehen, ein zu Hause, das oft einsam und kalt ist. Was dann bleibt ist die Erinnerung und das Wissen, dass es diesen Club gibt und im nächsten Monat wieder ein Treffen mit Menschen, die verstehen können, was es bedeutet, überlebt zu haben.

Holocaust Überlebende

Es ist beinahe 80 Jahre her, dass Nazi Deutschland kapitulierte und alliierte Truppen die Konzentrations- und Vernichtungslager befreiten. Doch trotz dieser langen Zeit leben nach einer Schätzung der Claims Conference, einer internationalen Interessenvertretung der Opfer, noch immer 245,000 Überlebende der Shoa. Davon lebt knapp die Hälfte in Israel, etwa 18 Prozent in Westeuropa und etwa 16 Prozent in den USA.

Die Stadt New York beheimatet mit 1,4 Millionen Juden die größte jüdische Community außerhalb von Israel und so ist es auch nicht verwunderlich, dass hier mit rund 30,000 eine große Anzahl Überlebender wohnt. Die meisten von ihnen sind nach 1928 geboren und haben den Holocaust als Kinder erlebt.

Die Claims Conference, die vorwiegend Entschädigungsmittel der deutschen Regierung verteilt, kämpft darum, die Aufmerksamkeit für die Nöte dieser Menschen lebendig zu halten. Gerade jetzt, im hohen Alter sind die Überlebenden besonders bedürftig. Viele von ihnen sind allein stehend, wirtschaftlich schwach und haben mit körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen zu kämpfen. „Oft sind die Hilfsorganisationen ihr einziges Bezugssystem“, sagt Zehava Birman Wallace vom Jewish Community Center of Greater Coney Island. Umso wichtiger sind für diese Menschen Zusammenkünfte wie der 2600 Club.