Tausende jüdische Familien genossen einst am Rande der Catskills nördlich von New York ihre Sommer. Nach Jahrzehnten des Verfalls wird die Region nun wiederentdeckt.
Jüdische Allgemeine, 29.9.2024
Jeffrey Kaplan ist ohnehin ein fröhlicher und leutseliger Mann, einer, in dessen Gesellschaft man sich sofort entspannt und unweigerlich gute Laune bekommt. Doch wenn Jeffrey an die Sommer seiner Jugend hier in Ellenville vor 50 Jahren denkt, bekommen seine Augen noch einmal ein zusätzliches Leuchten und das Grinsen unter seinem Walross-Schnurrbart dehnt sich auf die ganze Breite seines Gesichts aus.
Wir sitzen in Cohen’s Coffee Shop and Bakery nur einen Straßenzug entfernt von der Main Street von Ellenville, einer Hauptstraße, wie es sie zu Tausenden in amerikanischen Kleinstädten gibt. Rechts und Links reihen sich zweigeschossige Backsteinbauten aneinander, die Betriebe an der Straße versorgen die Anwohner wie schon seit 150 Jahren mit dem Nötigen. Es gibt eine Bank, einen Diner, einen Kurzwarenladen, eine Apotheke, ein Geschäft mit Handwerksbedarf und einen Gemüseladen. Im Hintergrund erheben sich die grünen Hügel der Catskills, jenem ausgedehnten Mittelgebirge rund 200 Kilometer nördlich von New York City, das von manch einem bis heute die „jüdischen Alpen“ genannt wird.
Der Spitzname stammt aus Jeffs Kindheit und den 20-30 Jahren zuvor. Damals, etwa zwischen den 20er und dem Ende der 60er Jahre waren die Catskills das beliebteste Ausflugs- und Sommerurlaubsziel von New Yorker Juden der bürgerlichen Mittelschicht, den Tausenden von Angestellten und Kleinunternehmern, die für ein paar Wochen im Jahr hier der Enge ihre Manhattaner Apartments und dem harten Broterwerb in der glühenden Stadt entflohen.
Sie mieteten sich dann in Hotels wie dem Nevele oder dem Tamareck unmittelbar außerhalb von Ellenville ein, elegante Prachtbauten im hochmodernen Stil der Zeit inmitten weitläufiger Gelände, mit Swimming Pool, geschwungener Bar mit Blick ins Grüne und auslandenden Speisesälen. Für 55 Dollar pro Woche bekam eine Familie damals drei Mahlzeiten am Tag, ganztätige Unterhaltung mit Sport und Spielen sowie Abendprogramm mit den besten Entertainern der Stadt. Jerry Lewis trat hier ebenso auf wie Danny Kaye oder Lenny Bruce, Mel Brooks, Joan Rivers und später Jerry Seinfeld. Für nicht wenige waren die Auftritte in den Hotels des „Borscht Belt“ – wie man die Gegend damals auch nannte - das Sprungbrett zu einer Hollywood Karriere.
Für Jeffrey und die anderen Jungs aus dem Ort waren diese Sommer die schönste Zeit ihres Lebens. Schon mit 13 jobbte Jeffrey im Tamareck als Restaurantgehilfe. Er stand morgens um fünf auf, bereitete den Frühstückssaal vor, das gleiche dann zum Mittags- und zum Abendbrot. Dazwischen und vor allem danach mischte man sich unter die mondänen Gäste aus der Stadt und genoss das Nachtleben bis in die Morgenstunden. Ein Leben, das Patrick Swayze als Borscht Belt Tanzlehrer in der Hollywood Schnulze Dirty Dancing verewigt hat. „Am Ende des Sommers warst Du schlag kaputt aber auch reich. Ich habe oft mehr an Trinkgeldern verdient als mein Vater Gehalt bekam“, sagt Jeffrey.
Jeffrey finanzierte sich damit unter anderem sein Studium. Er wurde Rechtsanwalt und zog in die weite Welt, arbeitete für eine große Firma in Washington. Doch seine Heimatliebe war stärker. Als sich die Gelegenheit ergab, in den Catskills Hausbesitzer zu vertreten, deren Grundstücke für den Bau von Wasserreservoirs enteignet werden sollten, kehrte er zurück. Bald wurde er zum Bürgermeister von Ellenville gewählt und behielt den Posten 22 Jahre lang.
Als Bürgermeister musste Jeffrey den langsamen Niedergang des Borscht Belt mit ansehen und verwalten. „Es kamen ab Mitte der 60er Jahre mehrere Dinge zusammen“, sagt er. „Wir nennen sie die drei As: Assimilation, Air Conditioning und Air-Travel (Flugreisen).“
Mit dem ersten A fiel der Grund weg, warum jüdische Familien aus New York sich überhaupt erst die Catskills als Urlaubsort ausgesucht hatten. Mitte der 20er Jahre, als jüdische Einwanderer aus Osteuropa in die Mitteschicht aufstiegen und sich Urlaube leisten konnten, standen ihnen nicht viele Reiseziele offen. Hotels am Strand in Long Island oder New Jersey etwa nahmen damals noch keine Juden auf. In den Catskills, in denen schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Juden Landwirtschaft betrieben, konnten sie sich hingegen Hütten und Lauben mieten und waren auch in Gasthäusern gerne gesehen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann jedoch das, was der Journalist Franklin Foer jüngst in einem langen Essay als das Goldene Zeitalter der amerikanischen Juden bezeichnete. Die Juden rückten in die Mitte der Gesellschaft, stiegen in entscheidende Positionen in allen Gesellschafts-und Wirtschaftsbereichen auf. Zugangsbeschränkungen zu Restaurants, Hotels, Unterhaltungseinrichtungen sowie Clubs und Gesellschaften fielen weg.
Die jüdische Mittelschicht konnte plötzlich wie alle anderen Amerikaner nach Miami oder nach Kalifornien fliegen. Urlaub im Borscht Belt bekam plötzlich etwas muffiges und kleinkariertes. Das war etwas für Juden, die sich nichts anderes leisten konnten.
Mit dem Niedergang der großen Zeit des Borscht Belt begann auch der Niedergang der Region. Die alten Branchen Landwirtschaft und Lederverarbeitung hatten schon lange an Bedeutung verloren, der Tourismus aus New York war für viele Gemeinden tragend geworden. Doch der brach ab Beginn der 70er Jahre zunehmend weg.
Ellenville ging es noch gut, erzählt Jeffrey, es gab eine Messerfabrik und einen Hersteller von Radioantennen. Anderen Gemeinden erging es schlimmer. Vor den Toren vieler Orte überwucherten die einst großartigen Urlaubshotels. Die Swimming Pools vermoderten, in den Zimmern nisteten sich Vögel und Beutelratten ein. Einige wenige blieben noch bis in die 2000er Jahre offen, vornehmlich besucht von einem alternden, nostalgischen Publikum.
Den vielen Bungalowkolonien, in den goldenen Borscht Belt Zeiten von Familien bewohnt, die sich keinen Urlaub in den mondänen Hotels leisten konnten, erging es nicht besser. In einem anrührenden Dokumentarfilm zeigte im Jahr 2005 der New York Times Journalist Andrew Jacobs den letzten Sommer einer solchen Kolonie außerhalb von Ellenville, in der seit mehr als 30 Jahren eine Gruppe von Holocaust Überlebenden gemeinsam ihre Sommer verbracht hatten. Der Verkauf der „Four Seasons Lodge“, wie die Kolonie und der Film hießen, nahm diesen Menschen im Alter einen zentralen Anker ihrer Existenz.
Andere Kolonien fanden eine neue Klientel. Nach dem ihre weltlicheren Glaubensgenossen nach Florida abgewandert waren, nahmen sich zunehmend chasidische und ultra-orthodoxe Juden im Sommer der Bungalow-Kolonien an. Bis heute ist es keine Seltenheit, dass man im Sommer durch kleine Ortschaften wie Fleischmanns fährt und auf der Straße beinahe ausschließlich Juden in traditionellen Gewändern sieht. Rund um den Ortskern nisten bescheidene Flachbauten in den Wäldern, in denen die oft kinderreichen Familien die Ferien verbringen, meist rund um das intensive Schriftstudium herum organisiert.
Im Nachbarort von Fleischmanns, Margaretville, bietet sich derweil ein ganz anderes Bild. Die Hauptstraße, die noch vor wenigen Jahren bis auf die Dorfkneipe, einen Heimwerker- und einen Jagdbedarfladen ausgestorben war, ist an einem gewöhnlichen Samstag im Sommer so belebt wie die Atlantic Avenue von Brooklyn. Es gibt gleich drei Cafes, vor denen die Menschen Schlange stehen, einen Feinkost- und einen Blumenladen und ein Immobilienmaklerbüro, dessen Schaufenster vor immer teurer werdenden Angeboten nur so überquillt.
Die Catskills befinden sich derzeit mitten in ihrem dritten Comeback, wie die New York Times es beschreibt. Da war der erste Boom der Catskills als Sommerfrische im ausgehenden 19. Jahrhundert und dann die Borscht Belt Zeit. Nun hat in der Gegend der Post-Covid Boom eingesetzt.
Wer es sich leisten konnte floh im Frühjahr 2020 aus Manhattan, als die Büros, Geschäfte und Restaurants schlossen, die Straßen ausgestorben waren und man in seinen oft winzigen Apartments eingesperrt war. Viele New Yorker kamen damals in die Catskills, die Berge waren nahe an der Stadt und nach der Depression der vergangenen 30 Jahre waren die Immobilien hier überaus erschwinglich.
Und viele blieben, als die Epidemie abebbte und das Leben in die Stadt zurück kehrte. Josh und Tina Weinstein etwa, ein Psychotherapeut und die Direktorin einer Viedeo-Produktionsfirma, kauften sich damals zu einem Spottpreis ein Haus in der Nähe von Margaretville und zogen mit ihrer kleinen Tochter ein. In die Stadt fahren sie nun nur noch drei Tage pro Woche, in den Sommermonaten nach Möglichkeit überhaupt nicht.
Die neue Migration hat die Gegend verändert. Das einst verarmte und herunter gekommene Hinterland ist wieder schick geworden. Es gibt Gastronomie und Einkaufsmöglichkeiten die New Yorker Ansprüchen genügen. Und nicht wenige der alten Borscht Belt Hotels wurden gekauft und werden für eine neue Klientel saniert.
So erstrahlt das Nevele außerhalb von Ellenville heute wieder in neuem Glanz. Die Fassade des vierstöckigen Betonklotzes ist blank gewienert, die Marmorsäulen der Lobby glänzen wieder und der Keramikboden ist mit Auslegware im Stil der 50er Jahre ausgelegt. Zeitgenössischer Comfort wird mit der Nostalgie nach dem alten Borscht Belt Ära verbunden.
An anderen Orten wurden alte Hotels in Wellness-Oasen mit Yoga Kursen und Massagen und drei-Sterne Dinners verwandelt. Das Konzept geht auf. Man fährt heute wieder in die Catskills.
Dabei lebt auch das Interesse an der Borscht Belt Zeit wieder auf. An der Hauptstraße von Ellenville hat in einem alten Bankgebäude, das einst Kredite an jüdische Landwirte vergab, ein kleines Borscht Belt Museum eröffnet. Jeffrey Kaplan ist Mitinitiator und Mitglied des Vorstands. Innen sind Interieurs der alten Hotels und Bungalows zu sehen, Flugzettel mit den Abendprogrammen und Videos von den Auftritten von Lenny Bruce, Jerry Lewis und Mel Brooks.
Das Museum ist voll an einem verregneten Sommernachmittag, an dem es zu trübe und nass ist, um zu baden oder zu wandern. Ein Mann um die 60, der sich als Joe vorstellt, berichtet, dass sich seine Eltern damals hier im Tamareck kennen gelernt hätten und dann immer im Sommer wieder hierhergekommen seien. Er selbst war seit Jahrzehnten nicht mehr hier. Doch in diesen Tagen ist er dabei, die Catskills neu zu entdecken. „Ich hatte völlig vergessen, wie schön es hier ist“, sagt er. Miami kann ihm in Zukunft gestohlen bleiben.