Der US-Supreme Court will das fast 50 Jahre alte Recht auf Abtreibung wieder aus der Verfassung streichen. Im Jahr 2022. Und die Welt schreit auf. Auch in anderen Ländern werden die Frauenrechte zurückgedreht. Eine Reise nach Texas, wo die Auswirkungen solch scharfer Gesetze auf die Gesellschaft längst sichtbar sind
Focus 21/2022
Es ist früh am Samstagmorgen und die Sonne des Rio Grande Tales, das im Süden von Texas die Grenze zwischen den USA und Mexiko markiert, taucht die Hauptstraße von McAllen in ein warmes, mildes Licht. Die Bürgersteige im zentralen Geschäftsbezirks der Grenzstadt sind noch leer, nur vor der Nummer 202, einem unscheinbaren Flachbau, dessen Eingang von einer doppelten Mauer geschützt ist, herrscht Betrieb.
Fünf Männer mit gestärkten Krägen knien vor einem improvisierten Altar, auf dem ein Jesus-Bildnis und eine Holzfigur des Erzengels Michael, dem Bezwinger des Leibhaftigen, stehen. Daneben liegt ein Teller mit kleinen Föten aus Plastik, denen sie unermüdlich Rosenkränze widmen: „Wir beten für alle die Kinder, die heute hier sterben“, murmeln die Männer im Chor.
Hinter den abgedunkelten Fenstern der Nummer 202 Main verbirgt sich „Whole Woman’s Health“, die letzte Frauenklinik im Süden von Texas, die noch Abtreibungen durchführt. Alle paar Minuten geleitet ein uniformierter Wachmann eine junge Frau in das Gebäude. Sie huschen rasch an den Betern vorbei, senken Blick und versuchen angestrengt, sich diesen ohnehin schweren Gang nicht noch schwerer machen zu lassen.
Die Klinik veröffentlicht keine Zahlen, wie viele Abtreibungen sie täglich durchführt, nach dem Verkehr hier am Morgen zu urteilen sind es jedoch gewiss mehrere Dutzend. Eine vergleichsweise niedrige Zahl angesichts der Tatsache, dass in der Region rund 1,3 Millionen Menschen wohnen.
Nancy Cardenas Pena, Direktorin des Latina Institute for Reproductive Justice, eine der größten Frauenrechtsorganisationen in Texas, ist sich jedoch sicher, dass das den Bedarf bei weitem nicht widerspiegelt. „Die Frauen sind verschüchtert und verunsichert“, sagt Cardenas Pena bei einem Interviewtermin in einem Cafe von McAllen am Nachmittag.
Die Rechtslage rund um die Abtreibung ist derzeit selbst für informierte Beobachter schwer zu durchdringen. Der Staat Texas, einer der konservativsten Staaten der USA, hat erst im vergangenen Herbst ein Gesetz verabschiedet, dass Abtreibungen nur bis zu zehn Wochen nach der letzten Menstruation erlaubt. Es ist der jüngste einer ganzen Reihe von Erlassen über die vergangenen 15 Jahre, die das Recht auf Abtreibung für texanische Frauen immer stärker eingeschränkt haben „Sie versuchen systematisch nach und das Abtreibungsrecht auszuhöhlen“, sagt Cardenas Pena.
Das neueste texanische Gesetz, SB-8 abgekürzt, wurde im Vorgriff auf ein Urteil des amerikanischen Verfassungsgerichts erlassen. Noch vor der Sommerpause im Juli wird erwartet, dass das Gremium in Washington über den Versuch des Staates Mississippi entscheidet, Abtreibungen bereits nach der 15ten Woche zu verbieten.
Das Urteil wird als das politisch folgenschwerste Urteil der vergangenen Jahrzehnte gewertet. Der Beschluss würde DeFacto das seit 1973 auf Bundesebene garantierte Recht amerikanischer Frauen auf Abtreibung aushebeln. Die Entscheidung über das Abtreibungsrecht würde an die Staaten fallen und man erwartet, dass in republikanisch geführten Staaten wie Texas Abtreibung extrem erschwert bis komplett illegal wird. 26 Staaten, mehr als die Hälfte des Landes, haben bereits entsprechende Entwürfe vorbereitet.
Die ohnehin tiefen Gräben in der amerikanischen Gesellschaft würden dadurch schier unüberwindbar. Die Abtreibungsfrage polarisiert Amerika seit den 60er Jahren mehr als irgendein anderes Thema. Das Urteil aus dem Jahr 1973 im Fall Roe vs. Wade wird nicht nur von Feministinnen als einer der größten Triumphe der amerikanischen Linken gefeiert. Den Konservativen ist es ein ebenso großer Dorn im Auge und man versucht seit dem Tag der Entscheidung vor 49 Jahren mit allen Mitteln dagegen an zu gehen.
Dass der mögliche Triumph der Konservativen nun kurz bevorsteht, ist eine der nachhaltigsten Folgen der Trump-Regierung. Trump konnte während seiner Amtszeit gleich drei oberste Verfassungsrichter, die der amtierende Präsident jeweils auf Lebenszeit benennt, nominieren: Amy Comey Barrett, Brett Kavanaugh und Neil Gorsuch. Obgleich das Gremium von der Theorie her unpolitisch sein soll, hat es nun die stärkste Mehrheit konservativer Richter seit den 30er Jahren.
Die Mehrheitsverhältnisse hatten zur Folge, dass das Gericht die Klage aus Mississippi überhaupt anhört. Und seit wenigen Wochen weiß man, dass das Gericht offenbar nicht nur plant, der Klage statt zu geben, sondern ein von Bundesseite garantiertes Recht auf Abtreibung ganz aufzuheben. Anfang Mai gelangte ein entsprechender Urteilsentwurf des Richters Samuel Alito in die Hände der Nachrichtenplattform Politico. Alito rechtfertigte in dem 98 Seiten langen Dokument, die Entscheidung über die Beschränkung der Abtreibung in vollem Umfang an die Bundesstaaten ab zu geben. Laut Politico gibt es im Gericht für diesen Entwurf eine Mehrheit von 5-3.
Was das für den sozialen Frieden der USA bedeuten könnte, war bereits am zweiten Mai-Wochenende zu sehen. Hunderttausende gingen in amerikanischen Städten auf die Straße um für das Recht auf Abtreibung zu demonstrieren. Stephen Marche, Autor des Buches „Aufstand in Amerika: Der nächste Bürgerkrieg“, glaubt: „Das wird noch massive zivile Unruhen nach sich ziehen.“ Von offenem Konflikt zwischen den Bundesstaaten bis hin zum Zusammenbruch des amerikanischen Rechtswesens, hält Marche nichts für ausgeschlossen.
Im Stadtpark vor dem Bezirksgericht In Brownsville, von McAllen aus knapp 50 Kilometer den Rio Grande hinunter in Richtung Golfküste gelegen, liegt am zweiten Maisonntag der Zorn so dick in der Luft, wie drückende Hitze der Grenzregion. Ein paar Hundert Vorkämpfer für Abtreibungsrechte haben sich hier heute versammelt, um ihrem Frust Luft zu machen und sich gegenseitig darin zu bestärken, den Kampf weiter zu führen, obwohl man sich im Augenblick vor einer vernichtenden Niederlage sieht.
Cathy Torres etwa, die für den Frontera Fund arbeitet, eine Organisation, die Gelder für Abtreibungsreisen in andere Staaten sammelt, nimmt kein Blatt vor den Mund als sie an das Mikrofon tritt. „Das ist verdammter Bullshit“, schreit die junge Latina in die Menge. „Das ist die pure Unterdrückung. Der verdammte Oberste Gerichtshof soll seine schmutzigen Finger von der Abtreibung lassen.“
Der Zorn von Torres hat sich lange aufgestaut. Sie sieht jeden Tag, welche verheerenden Folgen die Beschneidungen des Rechts auf Abtreibung für die Frauen von Texas haben, insbesondere für solche mit niedrigen Einkommen. „Wir leben hier ja praktisch schon seit mehr als zehn Jahren ohne einen echten Zugang zu Abtreibung“, sagt sie, nach dem sie sich am Sprecherpult Luft gemacht hat. „Und jetzt soll mehr als die Hälfte des Landes das gleiche Schicksal ereilen.“
Die Organisation von Torres finanziert jeden Monat 40-50 Reisen zu Abtreibungen in anderen Staaten oder in Mexiko. „Das kostet jedes Mal 1500-2000 Dollar, inklusive dem Verdienstausfall“, sagt sie. Die meisten Frauen in der Region, die oft in der Landwirtschaft arbeiten oder niedrig qualifizierte Jobs wie Haushälterinnen oder Verkäuferinnen ausüben, können sich das nicht leisten.
Für Einwanderinnen ohne Papiere, von denen Tausende in der Region leben, ist es indes gänzlich unmöglich. Die amerikanische Grenzpolizei hat bis zu 200 Kilometer weit im Landesinneren Kontrollposten eingerichtet, sie würden sofort abgefangen und deportiert.
Im Rio Grande Valley leben rund 27 Prozent der Familien unter der Armutsgrenze. Eine Statistik, welche die Region mit vielen klassischen republikanischen, ländlichen Gegenden teilt, in denen Gesetzesänderungen bevor stehen - Staaten wie Mississippi, Alabama oder Oklahoma. Die streng katholische, hispanisch geprägte Gegend am Rio Grande ist überaus kinderreich, doch viele Familien können sich mangels staatlicher Unterstützung im republikanisch geführten Staat den Kindersegen nicht leisten. So gehen einem Großteil der Frauen in Texas zunehmend die Optionen aus. Eine der Demonstrantinnen, die an das Gericht in Brownsville gekommen sind, bringt die Lage prägnant auf den Punkt. „Das ist die einzige Wahl, die der Gouverneur uns lassen will“, sagt sie, während sie einen Drahtkleiderbügel in die Luft hält.
Immerhin gibt es noch Hilfsorganisationen wie den Frontera Fund oder das Latina Institute. Doch auch sie geraten immer mehr unter Druck.
Patricio Gonzales etwa, glaubt, dass „uns sehr sehr dunkle Zeiten“ bevorstehen. Der Mit-Sechziger, der mit einer angenehm sanften Stimme spricht, leitet seit beinahe 40 Jahren eine Frauenklinik in McAllen. Schon 2013 musste die Klinik, die sich heute Access Esperanza nennt, aufhören, Abtreibungen anzubieten, weil man drohte, staatliche Förderung zu streichen. Heute bietet sie kostenlose Beratung, Untersuchungen´ und Kontrazeptiva für eine Kundschaft an, die mehrheitlich unterversichert oder gar nicht versichert ist.
Falls das Oberste Bundesgericht im Juni tatsächlich das Roe vs Wade Urteil aus den 70er Jahren aushebelt, befürchtet Gonzales jedoch, dass die Staatsregierung in Austin als nächstes die Vergabe von Verhütungsmitteln einschränken oder gar ganz verbieten wird. „Das sind Extremisten im Kapitol“, sagt Gonzales. „Und wenn das neue Urteil durch geht, ist nichts mehr sicher.“
Einen Vorgeschmack auf die Zeit ab kommenden August gab es schon Anfang Mai in Texas. Die 26 Jahre alte Lizelle Hernandez hatte sich auf illegalem Weg, vermutlich auf der anderen Seite der Grenze in Mexiko, das Abtreibungsmedikament Misoprostol verschafft. Durch die unsachgemäße Einnahme entwickelte Hernandez starke Blutungen und Krämpfe und musste ins Krankenhaus.
Das Krankenhaus wiederrum berichtete den Vorfall den Behörden. Hernandez wurde verhaftet. Ein übereifriger örtlicher Staatsanwalt wollte ursprünglich eine Anklage wegen Mordes vorbringen, die Anklage wurde nur durch das entschiedene Einschreiten des Latina Institute und anderer Hilfsorganisationen fallen gelassen. „Ob das in Zukunft immer so gut geht, ist eher ungewiss“, meint Gonzales.
Wie die Zukunft nach der endgültigen Beschneidung des Abtreibungsrechts in Amerika aussehen könnte, kann man auch schon sehen, wenn man über den Rio Grande in die Grenzstadt Progreso läuft. Der medizinische Tourismus aus den USA ist hier augenscheinlich das Hauptgeschäft. Entlang der Hauptstraße reihen sich Arztkliniken und Apotheken auf, beworben von übergroßen Schildern auf den Dächern und an den Fassaden.
Es ist ein Zufluchtsort für unversicherte oder unterversicherte US Amerikaner, die hier billig Einkaufen oder medizinische Dienstleistungen in Anspruch nehmen können. Die Qualität ist freilich zweifelhaft.
Luis Islas, der Besitzer der ersten Apotheke auf der mexikanischen Seite der Brücke, etwa, hat nicht die geringste Ausbildung in Pharmazie. Er ist als Jugendlicher mehrmals verhaftet worden, weil er den Rio Grande illegal überquert hat und hat mehrere Jahre in US Gefängnissen zugebracht. Jetzt hat er den Laden hier, einen kleinen kahlen Raum mit einem schlichten Regal, in dem der amerikanische Pharma-Tourist alles findet, was das Herz begehrt. Oxykodon, Viagra, die Pille danach und auch die Abtreibungspille. Kostenpunkt: 28 Dollar, etwa ein Sechstel des Preises auf der anderen Seite des Rio Grande.
Nach letzterer, behauptet Luis, fragen tägliche Dutzende von Frauen, viele von ihnen so hoch schwanger, dass die Pille schon lange nicht mehr indiziert ist. Wie die Pille, deren fehlerhafte Einnahme wie bei Lizelle Hernandez schwere Nebenwirkungen haben kann, zu applizieren ist, weiß Luis nicht. Er verkauft nur.
Abtreibungen sind in dieser Region freilich noch illegal. Doch das oberste mexikanische Gericht ist bereits in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, wie die amerikanischen Kollegen und hat die verfassungsrechtlichen Hürden zu einer breiten Legalisierung ausgeräumt. Man verspricht sich offenbar in Zukunft ein gutes Geschäft.
Nur eine knappe Dreiviertelstunde nördlich des Rio Grande, im weiten, flachen Farmland des fruchtbaren Tales, liegt der kleine Ort Lyford. Unmittelbar am Ortseingang prangt ein mächtiges Gotteshaus aus Backstein mit hohen bemalten Fenstern, bei weitem der imposanteste Bau im Dorf.
Am Eingang begrüßt uns Vater Derlis Garcia, Gemeindevorsteher und Leiter des „Pro-Life“ Büros der Erzdiozöse des Rio Grande Valley, einer Diozöse, die 1,1 Million Gläubige betreutt. Der Pfarrer ist warmherzig und sanftmütig, den „Zorn der Antreibungsgegner“, sagt er gleich zu Beginn des Gesprächs, könne er gar nicht verstehen.
„Schließlich“, führt er aus, „begegnet die Kirche auch Frauen, die Abtreibungen gehabt haben, mit Liebe“. Sogar Wochenendseminare veranstaltet Garlis, um diesen Frauen damit zu helfen, mit ihren Schuldgefühlen und ihrer Scham umzugehen.
Und auch sonst täte die katholische Kirche hier im Valley einiges. Vater Garcia sitzt im Vorstand zweier „Kliniken“, an die schwangere Frauen in Not sich wenden können. Sie bekommen kostenlose Ultraschalluntersuchungen, Familienberatung und die Versicherung, dass sie nicht alleine seien auf ihrem Weg.
Seine Kanzel, beteuert der Priester, verwende er auch nicht dazu, die Menschen zu missionieren, „die Politik halte ich aus der Kirche raus.“ Allerdings rede er durchaus über den Segen des Lebens und den Segen der Mutterschaft. Doch dabei gehe es ganz alleine um die Liebe Jesu.
Und was sagt er jungen Frauen in Not, die sich an ihn wenden. „Nun, das Leben ist nicht einfach“, sagt er. „Jeder der behauptet, es sei leicht, der lügt“.