Zu Amtsbeginn galt US-Vizepräsidentin Kamala Harris als neuer Star der Demokraten. Doch bislang agiert sie eher glücklos, vor allem in der Einwanderungspolitik
Focus, 5.11. 2021
Kamala Harris fühlte sich sichtlich wohl, als sie Ende Oktober im Hafen von Norfolk zu den Klängen von Bill Withers‘ „Lovely Day“ mit schwingenden Hüften vor eine aufgepeitschte Wähler-Menge tänzelte. „Hello Viriginia“, rief sie in den herbstlichen Abend und hatte dabei ein breites, tief empfundenes Lachen auf den Lippen. „Es ist sooo schön hier bei Euch zu sein.“
Die folgende, 16-minütige Wahlkampfrede für Terry McAuliffe, den demokratischen Kandidaten um das Gouverneursamt von Virginia, war der erste öffentliche Auftritt der Vizepräsidentin seit langem. Und er war so recht nach ihrem Geschmack. Wähler mobilisieren, eindringlich die Menschen daran erinnern, wie wichtig es ist, ihre demokratischen Rechte und Pflichten wahr zu nehmen, das kann sie gut. Das hatte sie schon zu Genüge bewiesen, als sie im Jahr 2020 Seite an Seite mit Joe Biden unterwegs war, um eine katastrophale Widerwahl von Donald Trump zu verhindern.
Man hatte das Gefühl, dass die Rückkehr in den Wahlkampf-Modus eine Befreiung war für Harris, die in den vergangenen Monaten in ihrer Ecke des Weißen Hauses eingesperrt zu sein schien. Es war still um sie geworden, so still, dass viele Medien sich laut fragten, was Kamala Harris denn eigentlich so treibt.
Das letzte Mal, dass Harris vor Virginia in den Schlagzeilen war, lag beinahe fünf Monate zurück. Und es waren nicht eben positive Schlagzeilen.
Es war Juni und die Vizepräsidentin befand sich auf einer Reise durch die Länder des sogenannten „Northern Triangle“ von Lateinamerika: Die drei mittelamerikanischen Staaten Guatemala, Honduras und El Salvador. Ihr Chef, Joe Biden, hatte sie dort hin delegiert, um sich um die Ursachen für die Masseneinwanderung aus diesen Ländern in die USA zu kümmern.
Die jüngste Migrationswelle aus diesen Ländern droht für Joe Biden zum Stolperstein zu werden. An der Grenze zwischen Mexiko und den USA spielen sich immer wieder chaotische Szenen ab, die US-Behörden scheinen völlig überfordert. Die Republikaner, die sich während der Trump-Präsidentschaft unablässig Kritik für die Zustände an der Grenze anhören mussten, können vor Schadenfreude kaum an sich halten. „Die Grenze ist zweifellos eines der schwierigsten Themen für die Biden-Regierung“, meint Noah Bierman, Washington Korrespondent der Los Angeles Times.
Manch einer behauptet deshalb gar, es sei ein politischer Sabotageakt einer möglichen zukünftigen Rivalin gewesen, dass Biden Kamala Harris ausgerechnet mit dieser Aufgabe betraut hat. Die Einwanderungswellen einzudämmen, scheint ein Job zu sein, bei dem Harris gar nicht gut aussehen kann, egal, was sie tut. „Wenn ich Kamala Harris wäre und mein Chef mir eine solche Aufgabe gibt“, sagte der Politik-Chef von CNN, David Chalain, etwa in seinem Podcast, „würde ich fragen- oh Mann, was soll der Mist?“
Als Joe Biden vor einem Jahr Kamala Harris nominierte schien das einer Kür seiner Nachfolgerin gleich zu kommen. Mit 78 Jahren war es überaus wahrscheinlich, dass Biden nur vier Jahre im Amt bleiben würde. Harris wäre dann im Jahr 2024 seine logische Erbfolgerin, das neue Gesicht der demokratischen Partei.
Inzwischen scheint jedoch klar, dass Biden nicht vor hat, eine reine Übergangsfigur zu bleiben. „Er hat sein Leben lang darauf gewartet, Präsident zu werden“, sagt Noah Bierman. „Er will sein eigenes Erbe hinterlassen.“ Die Ambitionen Bidens, das haben seine Initiativen der ersten Monate deutlich gemacht, gehen deutlich weiter, als nur das Chaos zu beseitigen, das Donald Trump hinterlassen hat, um dann ein geordnetes Haus an Kamala Harris zu übergeben.
Trotzdem glauben Kenner, dass Biden noch immer ein großes Interesse daran hat, dass Harris‘ Vizepräsidentschaft ein Erfolg ist. „Er steht voll hinter ihr“, meint Dan Morain, ehemaliger LA Times Korrespondent und Biograf von Kamala Harris. Dass Biden Harris unterwandern möchte hält Morain eher für eine Verschwörungstheorie.
Morain hält es viel mehr für einen Vertrauensbeweis, dass Biden seine Stellvertreterin mit einer der schwierigsten Aufgaben seiner Regierung betraut hat. „Die USA haben seit 30 Jahren an der Grenze keinen Fortschritt gemacht“, sagt Morain. „Wenn sie tatsächlich dort etwas bewegt, dann kann es ihr nur helfen.“ Wenn nicht, dann könne sie sich darauf berufen, dass sich Regierung um Regierung an der Einwanderungsfrage die Zähne ausgebissen hat.
Doch der erste Akt an der Grenze ging für Harris zumindest innenpolitisch nach hinten los. Noch während sie in Guatemala mit Präsident Giammattei über die Korruption in seinem Land sprach und ihm Hilfe bei der Bekämpfung der Armut dort anbot, gab Harris ihr erstes ausführliches TV Interview im Amt. Und der Interviewer, Lester Holt, war ihr nicht eben wohl gesonnen.
Immer wieder fragte Holt Harris, warum sie hier sei, sich aber noch nicht an der amerikanisch-mexikanischen Grenze habe blicken lassen. Irgendwann reagierte Harris patzig mit der Bemerkung, sie könne ja nicht überall sein. Für einen Besuch bei den europäischen Partnern habe sie schließlich auch noch keine Zeit gehabt.
Für die konservativen Medien wie Fox News war das Zitat ein gefundenes Fressen. Es wurde ausgeschlachtet als Beleg für die Arroganz von Harris und für einen völlig verfehlten Ansatz bei der Einwanderungspolitik. „Sie ist da voll ins offene Messer gelaufen“, sagt Astrid Langer, USA Korrespondentin und Autorin der bisher einzigen deutschsprachigen Kamala Harris Biographie.
Doch das Interview war nicht der erste und nicht der einzige Rückschlag für Harris in ihren ersten Monaten im Amt. Als wäre das Thema Einwanderung nicht schon Last genug, hat sich Harris freiwillig noch ein weiteres Problemfeld aufgehalst: Den Kampf um die Wählerrechte in den USA. Und auch hier steht sie bislang eher glücklos da.
Unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr haben vor allem republikanische US Bundesstaaten Gesetze erlassen, die den Zugang zur Wahlurne für Millionen von Wählern erschweren. Insbesondere republikanische Staaten wie Texas, Georgia und Florida versuchen mit solchen Gesetzen schon bei der Zwischenwahl im kommenden Jahr ihren Erfolg zu sichern.
Der Kampf um die Wählerrechte liegt Kamala Harris persönlich am Herzen. Historisch wurden Wahlrechtsbeschränkungen in den USA vor allem dazu benutzt, um schwarze Wähler vom demokratischen Prozess auszuschließen. Die demokratische Partei behauptet, dass sich daran bis heute nichts geändert hat. Die Wahlrechtsbeschränkungen seien durchweg darauf angelegt, Wählern in armen schwarzen Bezirken den Wahlgang zu erschweren. Und da die schwarze Wählerschaft überwiegend für Biden und Harris gestimmt hat, ist ein ungehinderter Zugang zur Wahlurne für die Zukunft des Landes entscheidend.
Doch ein von Harris unterstütztes Bundesgesetz, dass die Anstrengungen der republikanischen Staaten zur Wahlrechtsbeschränkung neutralisiert, hängt im Kongress fest. Ende Oktober blockierten die Republikaner im Senat zum zweiten Mal eine entsprechende Vorlage. Eine herbe Niederlage für Harris auch auf diesem Gebiet.
Als wären das noch nicht genug Probleme musste sich Harris in den ersten Monaten ihrer Präsidentschaft dann auch noch mit einem Enthüllungsbericht auseinandersetzen, der behauptet, ihr Büro im Weißen Haus sei schlecht geführt. Ein Artikel des Magazins Politico zitiert entlassene Mitarbeiter, die von einem bedrückenden Betriebsklima, von schlechter Organisation und von Temperamentsausbrüchen der Chefin sprach.
Der Bericht schien ähnliche Berichte aus ihrem Wahlkampf zur Präsidentschaft im Jahr 2019 zu bestätigen. Auch damals wurden interne Streitigkeiten, mangelnde Disziplin und Führungsschwäche für den Absturz einer vielversprechenden Kandidatur verantwortlich gemacht. Dan Morain sagt jedenfalls, er sei von dem Politico Artikel nicht überrascht gewesen.
So scheint nach nur neun Monaten im Amt der Glanz der großen demokratischen Hoffnungsträgerin stark verblasst zu sein. Einer Studie der Los Angeles Times zufolge ist sie nun die unbeliebteste Vizepräsidentin aller Zeiten. Aus dem hoch gelobten neuen Star am Firmament der US Politik ist ein möglicher Flop geworden.
Doch Kenner wie Dan Morain halten es für verfrüht, Harris jetzt schon abzuschreiben. „Es ist erst das erste Kapitel ihrer Geschichte. Sie hat noch viel Zeit.“
Für Morain häng vieles davon ab, wie sich die Präsidentschaft von Joe Biden weiter entwickelt. „Wenn Bidens Präsidentschaft ein Erfolg ist, dann ist hat Harris eine strahlende Zukunft.“ Sollte Biden scheitern, werde es auch für Harris schwer.
Wie erfolgreich Biden als Präsident in die Geschichte eingeht, könnte sich schon in den nächsten Wochen heraus stellen. Biden hat sein Schicksal an ein einziges Gesetz gehängt, mit dem er mit einem Streich alle seine großen politischen Ziele erreichen möchte. Bis er in der vergangenen Woche nach Europa zum G20 und zum Klimagipfel in Glasgow abreiste, versuchte Biden unermüdlich in der eigenen Partei Konsens über ein 1,75 Billionen Dollar Klimaschutz-und Sozialpaket her zu stellen.
Das ehrgeizige Paket entstammt nicht zuletzt Bidens langer politischer Erfahrung. „In den USA hat ein neuer Präsident meistens nur ein Jahr, um wirklich nennenswerte politische Erfolge zu erzielen“, sagt Noah Bierman. Dann setzt wieder der endlose Wahlkampf ein und in der Zwischenwahl nach zwei Jahren verliert die Regierungspartei häufig wieder eine Parlamentskammer und somit ihren politischen Handlungsspielraum.
Auf die Entscheidungsprozesse im Kongress hat Kamala Harris freilich nur wenig Einfluss. Sie kann bei einem Patt im Senat lediglich ihre verfassungsmäßig garantierte Vetostimme als Vizepräsidentin geltend machen. Ansonsten bleibt ihr nur das Abwarten.
Doch selbst wenn Biden mit seinem Gesetz scheitert und seine Regierung in der Zwischenwahl im kommenden Jahr die Flügel gestutzt bekommt, glaubt Dan Morain nicht, dass Harris‘ Karriere zwingend vorbei ist. Wenig von den Medien beachtet, hat sie ihre Zeit im Weißen Haus auch dazu genutzt, Koalitionen zu schmieden: Mit Frauengruppen, mit schwarzen Wahlrechtsgruppen, mit NGOs. Diese Verbindungen sollen vordergründig Joe Biden bei den Zwischenwahlen helfen. Ganz sicher helfen sie jedoch Harris auf ihrem weiteren politischen Weg. Und der kann noch lange sein. „Uns erscheint in der Politik immer das, was direkt vor unserer Nase liegt, als unheimlich bedeutsam“, sagt Noah Bierman. Mit dem Abstand von nur wenigen Monaten könne das alles wieder anders aussehen. Und Kamala Harris hat mit ihren 57 Jahren noch viel Zeit.