James Hibbard ist mehrmaliger US Meister im Bahnradfahren und verdiente mehrere Jahre lang sein Geld als Radprofi. Parallel studierte er Philosophie und arbeitet heute als Dozent. Im September erschien im Edel Verlag sein Buch „Die Kunst des Radfahrens: Über das Leben auf zwei Rädern und die Philosophie“

 

taz, 3.10.2023

 

Wie ist heute Ihr Verhältnis zum Radsport. Fahren Sie noch regelmäßig?

 

Ich glaube, ich habe als junger Athlet nicht so recht die Opportunitätskosten des Sport wert geschätzt. Ich habe immer gedacht, ich fahre so lange, wie mein Talent mich trägt und dann höre ich eben auf. Aber das stellte sich als weit schwieriger heraus, als ich gedacht hatte.  Das hat mir die Augen geöffnet. Als ich dann gesehen habe, dass einige meiner ehemaligen Mitstreiter, mit den gleichen Problemen gerungen haben, hat das meine Erfahrung natürlich validiert. Seine Identität ein Leben lang mit etwas zu verknüpfen, das man in seinen 20er Jahren gemacht hat, ist in gewissem Sinne tragisch. Und das ist etwas, womit ich schwer gekämpft habe. Man merkt als Radfahrer nicht, wie klein die Welt des Radsports ist. Man versteht erst später wie unbedeutend diese Welt ist. Es ist gut, dass es jetzt eine wachsende Anzahl von Athleten gibt, die darüber reden, wie schwierig der Übergang in ein Leben danach ist, auch Athleten, die weit besser waren, als ich selbst. Ich glaube, dass es enorm wichtig ist, dass diejenigen, die vom Sport profitieren, seien es Verbände oder professionelle Teams, anfangen, das zur Kenntnis zu nehmen.

 

Haben Sie die Vuelta verfolgt?

 

Ja. Ich schaue mir das Jumbo Visma Team an, das heute den Profisport dominiert und denke mir nur, um Gottes Willen, hoffentlich wiederholen wir nicht die Vergangenheit. Ich fand es übrigens sehr interessant, wie die deutsche Öffentlichkeit nach dem Telekom Skandal vollkommen dem Radsport den Rücken gekehrt hat, während andere Länder gegenüber der Dopingkultur doch milder waren.

 

Das ist das Absolute, Protestantische im deutschen Denken.

 

Ja und das habe ich immer bewundert. Ich habe viel Zeit in Spanien verbracht und die Spanier haben mich wahnsinnig gemacht. Meine Mentalität passt wesentlich besser zu Deutschland.

 

Es scheint so, als ob Sie die deutschen Philosophen mögen?

 

Mögen ist eine enorme Untertreibung. Ich verehre sie.

 

Welche Rolle hat für Sie die Philosophie beim Übergang von Ihrem Sportler-Dasein zum Leben danach gespielt?

 

Sie hat eine enorme Rolle gespielt. Mein Vater hat in Kalifornien Philosophie studiert und später an der FU in Berlin. Er hat mir von einem jungen Alter an vermittelt, dass es zwei Welten gibt: Die oberflächliche Welt des Kommerzes und eine andere, wahrere Welt, die hinter diese eher dummen Realitäten dringt. Ich habe immer gedacht, dass das etwas unverblümt Gutes ist. Aber ich zweifele das immer mehr an.

 

Warum?

 

Ach, es hat etwas Prätentiöses an sich, ständig die Welt der Dinge anzuzweifeln. Das hilft einem nicht immer weiter. Es gibt ein Genre von Philosophiebüchern, die sagt, wenn Du wirklich die Stoiker verstehst oder wirklich Nietzsche verstehst, dann bist Du dazu in der Lage, ein besseres Leben zu führen, dann wirst Du glücklich. Das deckt sich aber nicht im Geringsten mit meiner Erfahrung. Ich glaube sogar, dass ein gewisses Maß der Überintellektualisierung zu einem eher unglücklichen Leben führt.

 

 

Wie meinen Sie das?

 

Ich könnte damit zufrieden sein, ein schönes Essen mit Freunden zu genießen, mit meinem Kind zu spielen oder einfach nur Rad zu fahren. Aber die philosophische Stimme sagt einem dann, dass das alles nur oberflächlicher Bullshit ist und dass es dahinter etwas Profunderes gibt, wie Heideggers Sein oder Kantische Kategorien. Ich halte es für eher toxisch, ständig den Alltag und das Leben zu negieren. Wir sehen das ja immer mehr in unserer Kultur. Das Silicon Valley schätzt die abstrakte intellektuelle Neuheit. Handwerk oder Kunst werden hingegen entwertet.

 

Sie sagen, dass die Überintellektualisierung unglücklich macht. Gleichzeitig geht es in Ihrem gesamten Buch darum, den Radsport zu intellektualisieren.

 

Das stimmt zum Teil. Aber ich zeige doch auch an meinem eigenen Beispiel den Punkt auf, an dem die Intellektualisierung auf der persönlichen und intellektuellen Ebene scheitert. Deshalb ist für mich auch die Schlüsselfigur Nietzsche. Er zeigt am besten und schönsten das Scheitern des Intellekts auf. Er zeigt der gesamten platonischen Tradition, dass sie intellektuell und emotional unhaltbar ist. Ich finde das ungeheuer spannend und es führt einen zurück zu so etwas wie Fahrradfahren. Oder Gärtnern. Oder Schachspielen.

 

Ist das für Sie die Lehre aus dem Fahrradfahren? Hat Radfahren Ihnen die Grenzen westlichen Denkens aufgezeigt?

 

Ja, absolut. Es gibt einfach Dinge, die nicht von abstraktem philosophischem Denken erfasst werden können. Ich glaube, dass es für mich enorm wichtig war, das zu lernen und zur Welt zurück zu finden ohne diese abstrakten intellektuellen Ansprüche an sie zu stellen.

 

War das für Sie als Philosophen schwer?

 

Ja, ungeheuer. Aber zur Bedeutung des einfachen Seins der Dinge und der Schönheit der Existenz durch eine simple weltliche Praxis zu gelangen, war für mich eine riesige Entdeckung.

 

Also ist das Radfahren für Sie numinos.

 

Ganz genau. Es ist so, wie man auf die Sterne zeigt und sagt, es gibt da etwas Unerklärliches, das rationales Denken zu unterdrücken neigt. Dieses Unerklärliche ist für mich für das individuelle Überleben unerlässlich und wahrscheinlich auch für das Überleben der Menschheit.

 

Jetzt ist dieses Unerklärliche auch innerhalb des Radsports bedroht. Sie schreiben viel davon, wie im Leistungssport immer mehr versucht wird die Leistung zu technisieren und auf ein Rechenbeispiel zu reduzieren.

 

Es gibt für mich einen massiven Unterschied zwischen professionellem Radsport und der Aktivität des Fahrradfahrens. Ich versuche ja im Buch, das eine vor dem anderen zu retten. Der Bruch kam für mich mit dem Stundenweltrekord von Francesco Moser im Jahr 1984. Er war bestimmt nicht der erste, der Drogen genommen hat oder der erste der Blutdoping betrieben hat. Aber es war der erste extrem analytische Zugang zum Leistungssport.

 

Lag das an seiner Person?

 

Nein, dieser Paradigmenwechsel im Sport lag in der Luft. Die technischen und medizinischen Möglichkeiten waren da, sie warteten nur darauf, angewandt zu werden.

 

Was ging damit verloren?

 

Ich liebe den französischen, romantischen Zugang zum Radsport, Fahrer wie Thibault Pinot, die instinktiv, impulsiv fahren. Aber ich bin natürlich ein Realist. Ich kenne die Grenzen des Profisports mit seinen wirtschaftlichen Parametern. Trotzdem glaube ich, dass es noch Raum für romantische Figuren wie Pinot in dem Sport gibt.

 

Sie sprechen von Nietzsches Aufklärungskritik, gleichzeitig schreiben Sie in Ihrem Buch von seiner Idee der Selbsterschaffung, des Übermenschen und wie der Radsport auch diesen Aspekt hat, den Aspekt der Technisierung des Körpers. Wie passt das zusammen?

 

Ich glaube der Übermensch ist für Nietzsche weitaus komplizierter als lediglich externe Validierung und Erfolg. Die Selbsterschaffung ist für Nietzsche doch eher künstlerisch, ästhetisch als technisch oder militärisch. Also die Selbstdisziplin, die erforderlich ist, um sportlichen Erfolg zu haben, ist durchaus in Nietzsches Sinn. Aber das alleinige Ziel, zu gewinnen und die Gegner zu vernichten, geht vollkommen gegen Nietzsches Ansinnen. Nietzsche als Rechtfertigung für einen Lance Armstrong-ähnlichen Ansatz zu nehmen ist eine Trivialisierung von Nietzsche.

 

Lässt sich Nietzsches Idee der Selbsterschaffung als ästhetisches Projekt auf Ihren Zugang zum Radsport übertragen?

 

Ich glaube in dieser Frage steckt die Frage nach den künstlerischen Grenzen des Sports. Für mich war der Radsport immer ein Wettbewerb des Leidens. Es ging für mich im Grunde darum , wer sich selbst am meisten weh tun kann. Für mein 16 Jahre altes Gehirn bedeutete dies immer, dass derjenige, der am meisten leiden kann, am meisten empfindet. Ich dachte immer, dass ich ein guter Radsportler bin, weil ich beim Lesen von Dostojewski oder beim Hören von Beethoven sehr viel empfunden habe. Das war für mich die Verbindung von Kunst und Sport.

 

Ist der Radsport dann für Sie eine Art Oper des Leidens?

 

Man kann das übertreiben aber im Grunde ist das so. Es gibt natürlich auch noch Dinge wie Talent und Training, die Fahrer voneinander unterscheidet. Aber ich denke das Leiden macht den Radsport zu einer der interessanteren Zuschauersportarten. Man kann von außen erkennen, wenn ein Fahrer aufgibt. Der Kopf sinkt, er starrt auf die Vorderradnabe, er lässt die Schultern hängen. Zu unterscheiden inwieweit dieser Moment physiologisch bedingt ist und inwieweit er psychisch bedingt ist, ist eines der Dinge, die den Sport spannend machen.

 

 

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Radsport für Sie eine existentialistische Beschäftigung ist. Können Sie das etwas ausführen?

 

Meine erste Begegnung mit der Philosophie war der Existenzialismus. Die Existenzialisten waren in Kalifornien in den 60er und 70er Jahren sehr angesagt. Die Idee der Selbsterschaffung und der Gedanke, dass hinter der Oberfläche des Alltags überall Bedeutung lauert, die Einstellung, dass man seinen eigenen Sinn erzeugt anstatt einen institutionell vorgegebenen Sinn zu adaptieren – das war für die Gegenkultur sehr attraktiv. Zur selben Zeit haben in Kalifornien sehr viele Leute angefangen Rennrad zu fahren. Camus und Sartre zu lesen, Fellini Filme zu sehen und Rennrad zu fahren gehörten irgendwie zusammen. Ich war zu jung, um das mitzubekommen aber meine Mentoren und Trainer hatten noch diese Auffassung des Radsports als exotische und profunde europäische Beschäftigung.

 

Es ist irgendwie schwer sich Sartre auf einem Rennrad vorzustellen.

 

Das stimmt. Camus oder Heidegger schon eher.

 

Aber ist denn tatsächlich irgendetwas existentialistisches am Radsport?

 

Ich denke zumindest Sartre hat die Hierarchie zwischen der Welt der Gedanken und der materiellen Welt auf den Kopf gestellt. Wenn man das akzeptiert, dann wertet das auch den Sport auf. Plötzlich werden dieses Fahrrad und dieses Rennen wichtig und bedeutsam. Das Leben wird wieder sinnlich aufgeladen. Die Heideggersche Rückkehr zu den Phänomenen führt zum Radsport.

 

Ist also der Radfahrer der wahre existenzialistische Philosoph?

 

Ja. Die existenzialistische Botschaft ist bis zu einem gewissen Grad – „hört auf zu grübeln und setzt Euch aufs Rad. Oder Gärtnert. Oder kümmert Euch um Eure Großmutter“. Ich denke in diesem Zusammenhang viel an das Silicon Valley. Die digitale Wirtschaft belohnt alles, was abstrakt und neu ist. Neuigkeit ist aber dubios. Wir entwickeln eine App, die Taxiunternehmen bankrott macht und irgendjemand verdient damit Milliarden. Jemand, der eine 102 Jahre alte Frau am Leben hält, verdient hingegen 25,000 Dollar im Jahr.

 

Im Silicon Valley ist das Rennradfahren aber ungeheuer populär. Liegt das daran, dass all diese Leute ein materielles Gegengewicht zu ihrem abstrakten Lebe suchen?

 

Als ich in der Ära vor Lance Armstrong angefangen habe, Rad zu fahren, war das noch nicht so. Den Typus des hyper-kompetitiven, 50 Jahre alten Technologie-Managers, der am Wochenende Radrennen fährt, gab es damals noch nicht. Die Art und Weise, wie Rad gefahren wird, die Art von Leute, die der Sport anzieht, die Kosten -all das hat sich verändert. Heute bezahlen die Leute ja für ein schönes Rennrad 15,000 Dollar ohne mit der Wimper zu zucken.

 

Hat die wachsende Popularität des Radsports auch damit zu tun, dass wir alle irrsinnig viel Zeit im digitalen Raum verbringen? Ist es auch eine Sehnsucht nach Wirklichkeit?

 

Auf jeden Fall. Es ist ja so ähnlich wie die „Maker“ Kultur, die Rückkehr des Handwerks, so etwas banales wie der Trend zum „Craft“ Beer. Das hat alles mit einer Sehnsucht nach Wirklichkeit zu tun.

 

Würden Sie such als Existenzialisten bezeichnen?

 

Ein sehr vorsichtiger Existenzialist vielleicht. Das Problem mit dem Existenzialismus, so wie eigentlich mit jeder Philosophie, ist doch, dass sie sehr gut darin ist, all das zu benennen, was nicht funktioniert. Sie zeigt die Probleme mit bestimmten Glaubenssätzen auf. Sie ist hingegen nicht so gut darin, echte Alternativen aufzuzeigen. Es interessiert mich mit wachsendem Alter jedoch immer weniger, nur die Probleme clever zu beleuchten. Ich möchte lieber Dinge finden, die mich glücklich machen und mir ein Gefühl von Sinn geben.

 

Sie reden in Ihrem Buch sehr offen über Ihren Kampf gegen die Depression. Was hat Ihnen dabei mehr geholfen, die Philosophie oder der Radsport?

 

Wahrscheinlich der Radsport. Er hat mir etwas in der Welt gegeben, an dem ich mich festhalten konnte. Er hat mir Beziehungen und Freundschafen gegeben, die mir wichtig sind. Die Philosophie hatte all das nicht zu bieten. Wenn die großen Gedankengebäude kollabieren, sind es die kleinen, konkreten Dinge, die uns am Leben halten. Auch für Heidegger oder Nietzsches ging es um das Konkrete und nicht das Systemische.

 

Am Ende der Philosophie kommt man also beim Radsport heraus?

 

Nun man kommt dabei heraus, dass man die Welt rehabilitieren muss. Man muss sie in all ihrer Zwiespältigkeit für sich lebbar machen. Das ist eine gigantische Aufgabe. Aber es ist eine individuelle Aufgabe, es gibt dafür kein Rezept.

 

Sie würden also nicht das Radfahren als universellen Weg zum Lebenssinn empfehlen.

 

Nein, jeder muss seinen eigenen Weg finden. Der Weg muss zwischenmenschlich und sinnlich sein aber was es genau ist, ist letztlich gleichgültig. Jeder einzelne Weg für sich ist überflüssig und bedeutungslos. Er muss nur für mich Bedeutung haben. Das kann für mich Radfahren sein aber es kann genauso gut das Spielen mit meinem Sohn sein.

 

Sie haben schon während Ihrer Radsportkarriere Philosophie studiert. Hat Sie das zum Außenseiter gemacht?

 

Ich erinnere mich, dass ich am Vorabend vor einem großen internationalen Rennen im Hotel gesessen habe und die Geschichte „Wind, Sand und Sterne“ von Antoine Saint Exupery gelesen habe. Die Geschichte hat mich zu Tränen gerührt und ich dachte nur, ich bin wohl kein abgebrühter, kalter Champion. Also habe ich mich schon ein wenig wie ein Außenseiter gefühlt. Ich hatte immer zwei Identitäten, die mit einander im Wettstreit waren. Das hat mich bis zu eine gewissen Grad isoliert.

 

Es scheint aber immer öfter vor zu kommen, dass Profisportler auch künstlerische oder intellektuelle Interessen entwickeln. Der französische Radfahrer Guillaume Martin hat auch Philosophie studiert und schreibt Theaterstücke.

 

Ja, zum Glück. Es ist finde ich sehr ungesund, wenn Leistungssportler kein Leben und keine Interessen neben dem Sport haben. Das macht sie sehr sehr anfällig, wenn sie einmal aufhören.