Eine Retrospektive in New York würdigt Faith Ringgold und ihr außerordentliches Werk, im Museum of Modern Art hängt sie nun neben Picasso.

Süddeutsche Zeitung, 23. Februar 2022

In Faith Ringgolds Gemälde „The Flag is bleeding“ aus dem Jahr 1967 steht eine weiße Frau vor einer blutenden US Fahne. Rechts hat sie einen schwarzen Mann am Arm, der ein Messer hält, links einen weißen. Es ist ein anscheinend verzweifelter Versuch der Versöhnung in einem rassisch gespaltenen Land durch eine Frau.

1967 war das Jahr der Unruhen von Newark und Detroit, die großen Straßenschlachten von Los Angeles und Harlem wegen der grassierenden Polizeigewalt gegen Schwarze und der offenen Unterdrückung der Bürgerrechtsbewegung waren bereits vorbei. Die Ermordung von Martin Luther King stand zwar noch bevor, doch im Kampf um die Bürgerrechte verlor seine Strategie des zivilen Ungehorsams und der Integration immer mehr an Zugkraft. Black Power und Malcolm X waren mit ihrer Botschaft der Militanz und Konfrontation längst auf dem Vormarsch.  

Faith Ringgolds Bild, Nummer 18 des „American People”-Zyklus, drückt Fassungslosigkeit und Trauer angesichts der Unvermeidbarkeit der Gewalt aus, ebenso, wie ihr im gleichen Jahr entstandenes und vielleicht berühmtestes Bild „Die“. In offener Anspielung auf Picassos Guernica wird dort ein Panoptikum des Blutens und Sterbens gezeichnet, bei dem Schwarze wie Weiße gleichermaßen Opfer sind.

Was in „The Flag is Bleeding” allerdings fehlt ist eine schwarze Frau. In „Die“ immerhin springt sie von der Seite in das Tableau und scheint sich zwischen die streitenden Parteien werfen zu wollen. Im ersten Fall bleibt sie implizit, eine spürbare Abwesenheit, im zweiten Fall eine hilflose Figur, überrollt von der Geschichte.

Faith Ringgold war bis vor nicht allzu langer Zeit in der amerikanischen Kunstgeschichte diese Figur. Ihr Werk war ebenso wichtig wie übersehen, eine markante Leerstelle im Zentrum der Geschichte bildlicher Darstellung des 20. Jahrhunderts. Erst in den vergangenen fünf Jahren, weit in ihrem neunten Lebensjahrzehnt, bekommt sie die Anerkennung, die sie verdient mit einer Ausstellung in London, Würdigungen am MoMa und angemessenen Auktionspreisen. Und jetzt, unfaßbarerweise, mit der allerersten umfassenden Retrospektive ihres sich über 60 Jahre spannenden Werks am New Yorker New Museum.

Nicht, dass Faith Ringgold nicht ihren Platz eingeklagt hätte. Schon 1970 war Ringgold Teil des „Ad Hoc Women Artist Committee”, das lautstark die Inklusion weiblicher Künstlerinnen am MoMa und am Whitney Museum forderte. Ringgold lief aus Protest mit einer Trillerpfeiffe während der Biennale durch die Räume des Whitney und „trieb die Wärter zum Wahnsinn“, wie sich Lucy Lippard, eine Mitstreiterin von damals, erinnert.

Im Jahr danach organisierte sie in der Acts of Art Gallery im Greenwich Village die erste New Yorker Ausstellung, die sich alleine schwarzen Künstlerinnen widmete. Künstlerinnen, die sich nicht nur vom weißen Establishment, sondern auch von ihren männlichen schwarzen Kollegen marginalisiert fühlten. So ist für Ringgold die Ablehnung ihres Gesuchs, Teil des Kollektivs ihres Mentors Romare Bearden zu werden, eine ihrer schmerzhaftesten Erinnerungen.

Auch in ihrem Werk spielt die Institutionskritik immer wieder eine Rolle. So etwa in einem ihrer berühmten „Story-Quilts“ von 1991, auf dem eine junge schwarze Frau, die auto-fiktionale Willie Marie Simone, dabei zu sehen ist, wie sie mit ihren Kindern durch das Louvre tanzt und vor der Mona Lisa frohlockt. In einer anderen Arbeit wird gezeigt, wie Picasso in seinem Studio eine nackte schwarze Frau malt. In einem dritten Story-Quilt, „Le Cafe des Artistes“, sieht man die Pariser Boheme der 20er Jahre mit Toulouse Lautrec, Gaugin und Van Gogh, aber auch Hemingway und Getrude Stein. Ringgold setzt schwarze Künstler:innen der Harlem Renaissance wie Lois Mailou Jones, Elizabeth Catlett, Romare Bearden und sich selbst dazu und schreibt sie so in jene Geschichte hinein, die sie ausgelassen hatte.

Faith Ringgold wurde 1930 mitten in die Harlem Renaissance hinein geboren, in das kulturelle Erwachen des schwarzen Amerika in jenem New Yorker Viertel, das wie kein anderes in Amerika für die Freiheit und Selbstbestimmtheit der Afroamerikaner stand. Die Nachbarn der Familie waren Duke Ellington und Langston Hughes, der legendäre Saxophonist Sonny Rollins war ihr Sandkastenfreund.

So war es für die Tochter einer Modedesignerin von Anfang an klar, dass sie sich ihren eigenen Ausdruck, ihre eigene Sprache suchen würde. Die frühesten Arbeiten der Retrospektive am New Museum sind die ersten Bilder der „American People“ Serie vom Anfang der 60er Jahre. Es sind, wie sie es selbst nennt „superrealistische“ Portraits mit Anklängen an den Expressionismus und eine bewusst finster gewählte Farbpalette.

Im dominanten New Yorker Kunstdiskurs jener Zeit war für solche Werke genauso wenig Platz, wie etwa für die Portraits ihrer Freundin, Kollegin und Harlemer Nachbarin Alice Neel. Die New Yorker Kunstwelt diskutierte seinerzeit den Abstrakten Expressionismus und Minimalismus,  Pollock, Jasper Johns und Ad Reinhardt waren die Stars in den Galerien an der 57th Street. Selbst für weiße Frauen wie etwa Agnes Martin oder Eva Hesse, die im weitesten Sinn innerhalb des Genres arbeiteten, war es zunächst schwer, Anerkennung zu finden.

Die Tatsache, dass sie vom Mainstream ihrer Zeit ignoriert wurde, hatte freilich für Faith Ringgold auch etwas Befreiendes. „Sie sah nie die Notwendigkeit, sich anzupassen“, sagt Massimiliano Gioni, Kurator der Werkschau und „Associate Director“ am New Museum. Der Weg in den bestimmenden Diskurs ihrer Zeit stand ihr ohnehin nicht offen.

So bahnte sie sich ihren eigenen Weg und kultivierte beispielsweise das Medium der „Story Quilts“, für die sie heute neben der „American People“ Serie vielleicht am bekanntesten ist. Die Praxis brachte die afroamerikanischen Handwerksformen des Decken-Stickens und des Geschichtenerzählens zusammen, die ohnehin im Alltag schwarzer Frauen seit Jahrhunderten zusammen gehörten. Die überdimensionalen Textilien erzählen manchmal auf Comic-hafte Art und Weise Geschichten von semi-autobiografischen Figuren: So etwa das berühmte „Tar-Beach“, erzählt von einem kleinen Mädchen auf einem New Yorker Hausdach im Sommer, den „Street Story Quilt“ mit den Geschichten eines Harlemer Straßenblocks oder eben die Geschichte von Willie Marie Simone in Paris.

Aber auch in anderen Medien ging Ringgold ihre eigenen Wege, weit abseits der heroischen und vorwiegend männlichen Avantgarde der Downtown Kunstszene. Die Plakate, die sie in den 60er Jahren für die Black Panthers entwarf, zitieren afrikanische Designs aus dem Bakuba Königreich im heutigen Kongo, einer bemerkenswerten afrikanischen Hochkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Ihre „Soft Sculptures“ kombinieren die Quilt-Kunst mit afrikanischen Masken. Und ganz nebenbei schrieb Ringgold auch noch überaus erfolgreiche Kinderbücher.

Alle diese Experimente entfernten Faith Ringgold immer weiter vom Kanon. „Es ist eigenartig mit Faith“, sagt Massimiliano Gioni. „Sie ist einerseits sehr bekannt und beliebt. Andererseits hat sie im ernsthaften Kunstbetrieb noch immer nicht die Würdigung erfahren, die ihr gebührt.“

Dass es unter der New Yorker Museen ausgerechnet das vergleichsweise kleine New Museum ist, dass ihr nun diese Würdigung auf drei vollen Stockwerken zuteil werden lässt, erstaunt sogar Gioni selbst. Im Grunde hätte die umfassende Werkschau schon vor vielen Jahren an das Whitney oder an das MoMa gehört.

Immerhin hatte das MoMa bei der Neuhängung seiner Sammlung im Jahr 2019 Ringgolds Mural „Die“ einen prominenten Platz neben Picasso eingeräumt und ihr somit einen Platz im Kanon zugebilligt. Die Black Lives Matter Bewegung hat nun endgültig den Weg dafür geebnet, dass ihr Werk jenen Platz in der amerikanischen Kunstgeschichte beanspruchen kann, der ihr im Grunde schon immer gebührt hat.

Faith Ringgold hat wie keine andere der Lebenswelt schwarzer Frauen in der bildenden Kunst Amerikas eine Form und eine Sprache gegeben und sie, gemeinsam mit Kolleginnen aus anderen Genres wie etwa Toni Morrison in die Geschichte Amerikas hinein geschrieben. „Faiths Praxis inspiriert mich bis heute dazu, meine Wirklichkeit als wahr anzuerkennen“, schreibt etwa Tschbalala Self, eine ihre Erbinnen, im Katalog der Ausstellung. „Ich erkenne mich in der Komplexität und der Nuance ihrer Sujets wieder.“

Die Retrospektive am New Museum zementiert diesen Platz Ringgolds im amerikanischen Kanon. Eine amerikanische Kunstgeschichte zu erzählen, die nicht das Werk von Ringgold enthält und die Fragen, die es aufwirft, ist nicht mehr denkbar.  

 

Gleichzeitig sprengt sie den Begriff davon, was die amerikanische Kunst des 20. Jahrhunderts ist, weit auf.  Neben Expressionismus und Minimalismus stehen spätestens ab jetzt die Story Quilts, neben den Fahnen von Jasper Johns die blutende Fahne von Ringgold. Einen Weg zurück gibt es nicht.