Das 9/11 Memorial und das Museum am Ground Zero laden zum wohligen Gruseln ein und vermeiden jegliche Einordnung

Monopol Magazin, September 2021

Anthony Cipriano kann sich gut an den 11. September 2001 und die Zeit danach erinnern, das Ereignis war für ihn wie für die meisten New Yorker so prägend, dass es sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hat. „Es lag eine Stimmung in der Stadt, wie es sie vorher und seither nie gegeben hat.“

Anthony hatte damals eine Kneipe im East Village, eine schlichte Bar, in der die Leute aus der Nachbarschaft sich trafen, ihr Bier tranken und sich über Gott und die Welt austauschten. Zu den Stammkunden gehörten auch die Feuerwehrleute der Ladder 11, einer Wache an der Second Street, die sich nach ihrer Schicht hier auf dem Nachhauseweg den Ruß aus der Kehle spülten.

Jetzt steht Anthony an der Gedenkstätte für die Opfer des 11. September, jenen beeindruckenden Wasserfällen ins Nichts auf dem Grundriss der gefallenen Türme und liest die eingravierten Namen der Feuerwehrleute von Ladder 11, die er gekannt hat. Michael Cammarata etwa, John Kelly oder Edward Day. „Wir haben noch wochenlang darauf gehofft, dass sie einfach wieder in den Schankraum kommen“, sagt er. Dann, irgendwann, hat man unter den Stammgästen angefangen, Geld für die Angehörigen zu sammeln.

 Das Andenken an die sieben Feuerwehrmänner, die bei ihm Woche für Woche an der Theke standen, fährt Cipriano tief in die Glieder, er muss mit den Tränen kämpfen. Deshalb kommt er auch nicht oft hierher. „Ich habe das einmal erlebt. Das reicht.“

Aus eben diesem Grund hat Anthony bislang auch noch nie den Weg in das 9/11 Museum gefunden, dessen Eingang sich keine 100 Meter von dem Punkt, an dem er gerade steht, befindet. „Das Spektakel tue ich mir nicht an“.

Man hört das oft von New Yorkern, insbesondere von jenen, die am 11. September 2001 in der Stadt waren. Sie haben keine Lust, das Trauma jenes Tages ein zweites Mal zu durchleben. Gerade einmal 20 Prozent der Besucher kamen seit der Eröffnung des Museums im Jahr 2014 aus der Region New York.

Der Grund dafür liegt nicht zuletzt in der Konzeption des Museums, die der Kritiker Philip Kennicott in der Washington Post einmal so beschrieb: „Es ist so strukturiert, wie unsere Erinnerung an diesen Tag, ein höllischer Abstieg an einen dunklen Ort, wo eine Endlos-Schleife von Tod und Zerstörung läuft. Es überschattet und unterwandert die würdevolle Kraft der Gedenkstätte von Michael Arad, in dem es die Besucher dazu einlädt, die Ereignisse auf eine eigenartig obsessive, narzisstische Art immer wieder zu erleben.“

Die Diskussion um diese Konzeption des Museums, die mehr auf das Erleben als auf das Verstehen zielt, hat nun, zum 20. Jubiläum der Anschläge, neuen Zündstoff bekommen. Dafür verantwortlich ist zum einen das Debakel in Afghanistan, das mit Macht die Frage aufwirft, warum das Museum jegliche Diskussion um die politischen Folgen von 9/11 vermeidet.

Zum anderen bekam die Debatte durch einen Dokumentarfilm um die Entstehung des Museums neues Futter, der pünktlich zum Jubiläum im US Fernsehen ausgestrahlt wurde. Die Regisseure Steven Rosenbaum und Pamela Roder waren von Anfang an bei den Diskussionen um die Idee und die Gestaltung des Museums dabei und haben dokumentiert, welche Entscheidungen wie getroffen wurden.

 

 

Im Zentrum von „The Outsider“ steht der „Kreativ-Direktor“ Michael Shulan, ein Außenseiter in der Museumswelt, der sich einen Namen gemacht hatte, weil er unmittelbar nach dem Attentat im südlichen Manhattan in einer Galerie Amateurfotos des Ereignisses und der Zeit danach ausstellte. Schulan plädierte von Anfang an für ein offeneres, spannungsreicheres Konzept des Museums, doch er wurde von den Profis wie der Direktorin Alice Greenwald zunehmend marginalisiert. Der Druck sowohl von den Angehörigen der Opfer als auch von der Politik, in einer simplistischen Erzählung von Gut und Böse zu verharren, war einfach zu groß.

So ist das Museum bis heute, wie Kennicott schrieb, eine „Kathedrale amerikanischen Leidens und amerikanischer Aggression.“ Schon der Eintritt in die Museumslobby ist bedrückend, der Sicherheitschecks durch übellaunige, bellende Beamte, erinnert gleich daran, wie sehr sich seit 9/11 so Vieles zum Schlechteren gewandelt hat. Doch das ist erst der Anfang.

Von dem sterilen Pavillion aus, der neben den Wasserfällen den Zutritt markiert, wird man per Rolltreppe sieben Stockwerke unter die Erde befördert. Der Abgang ist jener Rampe nach empfunden, die zehn Jahre lang für die Aufräum- und später die Bauarbeiter den Zugang zu dem Trümmergelände darstellte. Für den Museumsbesuch fühlt er sich jedoch wortwörtlich an, wie eine Höllenfahrt, ein beklemmender Abstieg in einen finsteren Abgrund.

Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass man die letzte Etage bis zum tiefsten Untergeschoß der einstigen Türme neben einem original erhaltenen Treppenabgang bewältigt. Er wird „Survivor Staircase“ genannt – die Treppe der Überlebenden. Die Intention ist klar, man soll nachfühlen können, wie es war, nach dem Abstieg über 70 Stockwerke oder mehr durch ein enges finsteres Treppenhaus, gerade noch einmal mit dem Leben davon gekommen zu sein.

Unten angekommen wird man nun von zweierlei begrüßt. Zum einen ist da der letzte Stahlträger, der noch lange Zeit einsam aus dem Massengrab ragte und der Inschriften von Rettungspersonal und Feuerwehrleuten trägt. Einige erinnern daran, dass darunter noch menschliche Überreste liegen, nach denen Trupps weiter graben sollen. Andere listen die Zahl der Opfer einzelner Polizei- oder Feuerwehreinheiten auf. Wieder andere sind kryptisch und mysteriös.

 Dahinter prangt in gigantischen Lettern an der Betonwand, die damals wie heute das Wasser des Hudson dämmt, ein Zitat aus der Aeneas-Sage: „No day shall erase you from the memory of time“ – Kein Tag soll Dich aus der Erinnerung der Zeit löschen.“

 Über den Fehlgriff bei diesem Zitat wurde seit der Eröffnung des Museums im Jahr 2014 bereits viel geredet. Geändert wurde es trotzdem nicht. Hier wird das moralische Gewicht des antiken Dichters genutzt, um eine scheinbar zeitlose Aussage über Tod und Verlust zu treffen. Leider wurde dabei der Kontext des Zitates vergessen. In der Aeneas-Sage wird es von zwei Kriegern ausgesprochen, nachdem sie nächtens ein Massaker an Schlafenden angerichtet haben. So gerät es an dieser Stelle eher zu einem Monument für die Attentäter als für die Opfer.

 Nun hat der Besucher die Wahl zwischen zwei Wegen. Der eine führt in eine Ausstellung zu den Ereignissen jenes Tages und den Tagen und Wochen danach. Der andere führt in eine Galerie mit Portraits der knapp 3000 Opfer. An interaktiven Audio-Stationen kann man sich dort über ihre Geschichten, ihre Biografien und alles, was man über ihren Tod weiß, informieren.

 Der Effekt, den der New York Times Kritiker Holland Cotter einmal als Schlag in die Magengrube bezeichnete,  wird noch dadurch verstärkt, dass unter der Galerie die unidentifizierten menschlichen Überreste aus dem Einsturz des World Trade Center lagern. So ist das 9/11 Museum das vielleicht einzige Museum der Welt, das zugleich eine Grabstätte ist. 

 Wie schon der rituelle Abstieg über die Todestreppe verwandelt diese Galerie den Museumsbesuch eher in ein sakrales, denn in ein Bildungserlebnis. Es ist eine Pilgerfahrt an eine Reliquienstätte. Die Religion, der hier gehuldigt wird, ist die amerikanische. Es ist die simplistische Legende, die sich seit 9/11 verfestigt hat und die besagt, das Land sei von Kräften des Bösen angegriffen worden und müsse unter dem Blau-Weiß-Roten Banner nun zusammenrücken.

 Dem wird auch in den wenigen Räumen, die vom Grauen jenes Tages Abstand nehmen und auf das Historische gehen, keine Komplexität hinzugefügt. Die Darstellung der Entstehung und des Anwachsens von Al Qaeda etwa bleibt sorgfältig neutral und geht dabei über Wikipedia Niveau kaum hinaus. Die Warnhinweise, man dürfe diese Organisation nicht mit dem Islam verwechseln, lesen sich wie eine medizinische Packungsbeilage.

Im Mittelpunkt des Museums bleibt jedoch der Horror. Mit Hilfe von Fotos, Audio-Aufnahmen, Videos und Hunderten von Objekten wird man dazu gezwungen, das Grauen jenes Tages Minute für Minute noch einmal zu erleben.

Immer wieder hört man Aufnahmen letzter Telefongespräche zwischen den Opfern im flammenden Inferno, die mit wachsender Verzweiflung ihren Angehörigen die Lage erklären. Man sieht die vertraute Videoschleife, die zeigt, wie die Flugzeuge endlos und immer wieder in die Türme rasen und wie diese einstürzen. Man sieht Hunderte von persönlichen Gegenständen, die in den Trümmern gefunden wurden. Und man hört die Funkdurchsagen der Feuerwehrleute, die sich dem Strom der Fliehenden entgegen nach oben kämpfen um Leben zu retten, nur um dabei das eigene zu verlieren.

Kaum mehr an Distanz erlauben die größeren Ausstellungsgegenstände. Eine original, mit Staub überzogene, Schaufensterauslage etwa oder ein verlassener Feuerwehrwagen, der bis auf das ausgebrannte Führerhaus vollkommen intakt ist. Oder ein Ständer mit verlassenen Fahrrädern, deren Besitzer nicht zurückgekehrt sind. Am meisten fährt ein Klumpen Metall in die Magengrube, der, komprimiert und verschmolzen, vier Stockwerke des einstigen World Trade Center darstellt. Die Wandtafel versichert, dass sich in dem Klumpen keine menschlichen Überreste befinden, doch wer kann das schon genau wissen?

All das wird noch unerträglicher durch manche Besucher, die sich grinsend vor diesen Dingen selbst oder gegenseitig fotografieren. Sie verwandeln die Museumskatakomben in eine Art Geisterbahn. Man kann sich hier schön gruseln, ohne wirklich selbst in Gefahr zu sein und für Instagram ein Urlaubsfoto schießen. Eine Überlebende jenes Tages, die sich in das Museum gewagt hat, um sich ihrem Trauma zu stellen, hat es genau an diesem Punkt nicht mehr ausgehalten und musste hinaus rennen, an die Oberfläche, um nicht zu ersticken.

 Bei jemandem, der jenen Tag nicht persönlich an dieser Stelle erlebt hat, bleibt nach dem Besuch eigentlich nur  Unverständnis. Das Museum ist eine Zeitreise, es versetzt einen zurück in den September 2001, als die Welt voller Entsetzen und Verwirrung war. Es war ein Zustand, der zu vielen unreflektierten und dummen Handlungen geführt hat, insbesondere in den USA.

Es wurden impulsiv Kriege angezettelt, es erstarkte ein dumpfer Hurra-Patriotismus, der den Boden für einen gefährlichen Populismus bereitete. Fremdenhass und Rassismus bekamen Aufwind, Grundrechte wurden eingeschränkt und ausgehöhlt. Ein überblähter Sicherheitsapparat startete eine Überwachungskampagne seiner Bürger, wie sie westliche Demokratien noch nie erlebt hatten. Amerika veränderte sich und das nicht eben zum Besseren.

Man hätte sich von einem 9/11 Museum gewünscht, dass es über all das spricht. Wie nötig das wäre, zeigt nicht zuletzt das Afghanistan Debakel. Gerade weil die Mehrheit der Besucher Touristen aus anderen Gegenden der USA sind, wäre das Museum eine formidable Gelegenheit gewesen, Denkprozesse an zu stoßen. Doch stattdessen kommt es nicht über ein Spektakel des Grauens hinaus, das nichts tut, als Wut und einen dumpfen Patriotismus-Reflex zu befeuern.

Dazu passen die Gegenstände, die man sich im Shop am Ausgang besorgen kann. Es gibt zum Dreieck gefaltete US-Flaggen, die jenen gleichen, die Angehörige von gefallenen Soldaten überreicht bekommen. Es gibt Anstecknadeln und Kühlschrankmagneten mit den alten Twin-Towers und wiederrum der US-Flagge im Hintergrund. Und es gibt T-Shirts in den Farben der New Yorker Feuerwehr, in denen man sich ein wenig heldenhaft fühlen kann.

Immerhin gibt es für zartere Gemüter auch noch eine Jute – Tasche auf der steht „Love is stronger than hate“. „Die Liebe ist stärker als der Haß.“ Doch die Tasche ist im Gift Shop eher ein Ladenhüter.